Legion: Staffel 1

Während sich die X-Men im Kino schon fleißig ausgetobt haben und wohl auch weiterhin tun, so gab es bisher keine Live-Action-Serie von Marvels Comic-Mutanten. Legion schließt quasi diese Lücke mit einer an Kuriosität und Einfallsreichtum kaum zu überbietenden ersten Staffel.

Legion: Staffel 1 (Legion: Season 1)
Mystery/Science-Fiction/Psychothriller/Drama-Serie USA 2017. 8 Folgen (Staffel 1). Gesamtlänge: ca. 387 Minuten.
Mit: Dan Stevens, Rachel Keller, Aubrey Plaza, Jean Smart, Bill Irwin, Jeremie Harris, Amber Midthunder, Katie Aselton u.a. Idee: Noah Hawley. Nach Comic-Charakteren von Chris Claremont und Bill Sienkiewicz.



 

 

Zwischen Astralebene und Gedächtnispalast

Mal ehrlich, auch wenn immer mehr Comichelden aus den unerschöpflichen Vorlagen von Marvel, DC und anderen auf die große Leinwand drängen, so sind die jeweiligen Filme inhaltlich nicht besonders einfallsreich oder spannend. Extrapoliert man die minimalen indivuellen Unterschiede der Protagonisten, so bleibt der immer schalere Cocktail aus altbewährten Superhelden-Tropen und gleichförmiger Mega-Action. Ausgerechnet eine neue Serie liefert die beste „Comic-Adaption“ seit langem: Legion. Allerdings nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Apokalypse-Fantasyfilm von 2010.

Schon seit seiner Jugend hat David Haller (Dan Stevens) unter schweren psychischen Problemen zu leiden, die er in gewaltige Ausbrüche sowie Drogen und Alkoholkonsum kanalisierte. Als Erwachsener war David immer wieder in psychologischer Betreuung, zuletzt in einer Einrichtung namens „Clockwork“. Nach einem Vorfall mit seiner Freundin Syd, der massive Folgen für die anderen Insassen wie das durchgeknallte Junkie-Girl Lenny (Aubrey Plaza) hat, wird David von einer geheimnisvollen Regierungseinrichtung verhaftet und verhört. Während er die Fragen des namenlosen Agenten (Hamish Linklater) beantwortet, versucht sich David an den Verlauf seiner „Krankheit“ zu erinnern, die eigentlich keine ist. Denn David hat einfach nur besondere Kräfte von ungeahnter Stärke…

Das Praktische an Legion ist, dass man sich die Produktion des amerikanischen Sender FX ohne irgendwelche Vorkenntnisse ansehen kann. Man braucht also nicht vorher mehrere Filme oder andere Serien konsumieren, um inhaltlich durchzusteigen. Im Gegenteil, je weniger man weiß, desto besser können die acht Episoden der ersten Staffel ihre Wirkung entfalten. Ein wenig Offenheit beim Zuschauer sollte allerdings unbedingt vorhanden sein, denn bisherige Sehgewohnheiten werden hier massiv aufgebrochen. Das beginnt schon mit der ersten Folge, die zwischen mehreren Zeitebenen (Davids Kindheit und Jugend, seinem Aufenthalt in Clockwork sowie dem Verhör) virtuos hin- und herspringt. Die gut einstündige Pilotfolge, bei welcher Serien-Erfinder, Showrunner und Chefautor Noah Hawley (Fargo – Die Serie) auch Regie führte, gehört zu den besten Serien-Auftaktepisoden, die das Fernsehen je hervorgebracht hat. Eine surreale Mischung aus Kameratricks wie bei Kubricks 2001:Odyssee im Weltraum, psychedelischem Soundtrack, perfekter Montage und einem Look irgendwo zwischen Mad Men, Uhrwerk Orange, Welt am Draht und Inception.

Die wundersame Vermischung von Architektur und Mode der 1960er/1970er mit den technischen Errungenschaften der 2010er Jahre verstärken das unwirkliche Gefühl, welches man als Zuschauer bei Legion erlebt und das viele Fragen aufwirft. Ist David einfach verrückt oder verfügt er wirklich über unvorstellbare Kräfte? Oder trifft beides zu? Spielt sich die gesamte Serienhandlung nur in Davids Verstand, quasi seinem Gedächtnispalast, ab? Defintiv weiß man das nach dem Ende der ersten Staffel nicht.

Doch Legion wäre nur eine von vielen TV-Produktionen, ließe sie nach dem famosen Auftakt nach. Von Folge zu Folge steigert sich das Mindfuck-Szenario bis zum vorläufigen Showdown auf der Astralebene in Kapitel 7, inszeniert als Stummfilm-Sequenz mit Zwischentitel und untermalt von einer schrägen Interpretation des Bolero von Maurice Ravel. Aber hier herrscht keinesfalls die Maxime „Style over substance“. Im Gegenteil. Die unkonventionell erzählte Geschichte wird durch die famose Inszenierung noch aufgewertet. Nicht nur Masse, sondern auch mit Beschleunigung. Ein narratives Konstrukt, das x-fach durch ein Kaleidoskop gebrochen wird. Und inmitten dieses irren Trips bleibt Raum für eine kleine, ungewöhnliche Lovestory zwischen David und Sydney, ähnlich unmöglich wie die von Ned und Chuck in Pushing Daisies.

Schauspielerisch steht hier natürlich Dan Stevens (bekannt aus Downton Abbey und der Disney-Realverfilmung von Die Schöne und das Biest) im Mittelpunkt, der ohne große Grimassen wirkungsvoll die verschiedenen Zustände Davids verkörpert. Der heimliche Star von Legion dürfte aber Aubrey Plaza (Journey Of Love) als Lenny sein, einer Figur irgendwo zwischen Junkie-Braut, Femme Fatale, Puck und Mephisto. Plaza brilliert in dieser vielgesichtigen Rolle mit einer beispiellos entfesselten und zunehmend verstörenden Performance. Wenn so eine Bravourleistung nicht mindestens Nominierungen für Emmy und Golden Globe nach sich zieht, dann weiß ich auch nicht.

Natürlich werden einige Comic-Fans unken, dass Legion gar keine richtige Superhelden-Show ist. Richtig. Und das ist wunderbar. Denn es gibt schon zuviel an konventioneller, austauschbarer Comicheroen-Dutzendware in Kino und TV.

Nach der Ausstrahlung im Pay-TV beim FOX Channel ist die erste Staffel von Legion bei Amazon Video verfügbar. Für Februar 2018 ist eine zweite Staffel mit zehn Episoden geplant.

Fazit: Legion vereint in der ersten Staffel virtuos die inszenatorischen Stärken eines Arthouse-Films mit anspruchsvollem Serienmaterial und schöpft die Potenziale beider Erzählformen voll aus. Die Sensation des Jahres! 10 von 10 Punkten.

David und Syd verlieben sich
Grandios: Aubrey Plaza als Lenny
Cary und Kerry Loudermilk
Irre Zeiten in Clockwork

Marius Joa, 16. April 2017. Bilder: FX/Marvel.

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