Kleinere Animationsfilme haben es bei der Übermacht von Disney, Pixar und anderen aus Hollywood schwer, ein Publikum zu finden. Wie der französisch-britische Beitrag Der Illusionist, über einen erfolglosen Zauberkünstler, nach einem unproduzierten Skript des legendären Mimen Jacques Tati.
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Der Illusionist (L’Illusioniste)
Animationsfilm Frankreich, UK 2010. FSK: Freigegeben ab 6 Jahren. 77 Minuten (PAL-DVD).
Nach einem Originaldrehbuch von Jacques Tati. Adaption und Regie: Sylvain Chomet.
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Magie und Melancholie
1959. Tatischeff ist ein begabter Bühnenmagier. Doch Leute wie er gehören in der neuen Welt von Rock- und Popstars zu Auslaufmodell und sind nicht mehr gefragt. So verliert Tatischeff seinen Job in Paris und reist für weitere Engagements nach London. Auf einer Betriebsfeier wird der Magier von einem trinkfesten Schotten in dessen abgelegenes Heimatdorf an der Westküste eingeladen. Tatischeff nimmt die Einladung an und erlebt bei seinem Auftritt in der Dorfkneipe erstmals seit langem wieder ein völlig begeistertes Publikum. In der kleinen Pension lernt Tatischeff Alice kennen. Das junge, schüchterne Mädchen hält die Tricks des Zauberkünstlers für echte Magie und folgt ihm nach seiner Abreise. In Edinburgh beziehen die beiden gemeinsam ein Apartment in einem Künstlerhotel. Tatischeff bemüht sich Alice ihre Wünsche zu erfüllen, auch wenn seine berufliche Situation nicht besser wird…
Der französische Komiker, Schauspieler, Autor und Regisseur Jaques Tati (bürgerlich Jacques Tatischeff; 1907-1982) wurde vor allem für seine Figur des eigenwilligen, schlaksig-tollpatschigen Monsieur Hulot bekannt, der zwischen 1953 und 1971 in vier Kinofilmen zu sehen war. 1956 schrieb Tati ein Drehbuch über einen erfolglosen Zauberkünstler, der sich um eine junge Frau kümmert. Dieses zu seinen Lebzeiten unproduzierte Skript hatte Tati als Annäherung an seine erste, uneheliche und nie von ihm anerkannte Tochter Helga Schiel verfasst. Von Tatis zweiter Tochter, Sophie Tatischeff (1946-2001), fand das Drehbuch seinen Weg zum französischen Filmemacher Sylvain Chomet, dessen Zeichentrickfilm Das große Rennen von Belleville (OT: Les Triplettes de Belleville) 2004 zwei Oscar-Nomnierungen (bester Animationsfilm, bester Song) erhielt. Chomet und sein damaliges, im schottischen Edinburgh ansässiges Animationsstudio Django Films schufen aus Tatis Vorlage den Zeichentrickfilm Der Illusionist. Die französisch-britische Co-Produktion feierte ihre Premiere im Februar 2010 auf der Berlinale. Bei einem Budget von umgerechnet 17 Millionen US-Dollar spielte der Film weltweit etwa 6 Millionen wieder ein. Ein deutscher Kinostart war Chomets Regie-Arbeit aber nicht vergönnt. Im Oktober 2012 kam es zu einer Veröffentlichung auf DVD und BluRay.
Der Illusionist erweist sich gleichsam wie sein Protagonist als merkwürdiger Anachronismus. Im Zentrum der Geschichte steht ein Gefühl der Melancholie im Zusammenhang mit wehmütiger Nostalgie. Zauberkünstler Tatischeff ist ein Auslaufmodell. Seine Tricks sind in den Zeiten aufkommender Rock- und Popstars auf der Bühne nicht mehr gefragt. Umso schöner, dass er in der schottischen Provinz doch noch ein von seiner Arbeit begeistertes Publikum vorfindet. Dieser kurze Moment des Erfolges bringt ihn auch mit Alice zusammen, einem schweigsam-schüchternen, jungen Mädchen, welches als Zimmermädchen arbeitet. Fortan bestreiten sie ihr Leben gemeinsam, doch nicht etwa als Paar mit großem Alters- und Größenunterschied, sondern in einer Art Vater-Tochter-Beziehung. Drittes Mitglied dieser “Patchwork-Familie” ist das bisher unerwähnt gebliebene, proppere und höchst eigensinnige, weiße Kaninchen Tatischeffs. Da fühlt man sich doch glatt an Presto erinnert, jenem Oscar-nominierten Kurzfilm, der 2008 als Vorprogramm von WALL-E im Kino zu sehen war.
Chomets und Tatis Werk handelt vom Niedergang althergebrachter Unterhaltungskultur. Im gleichen Hotel wie Tatischeff und Alice wohnen auch andere erfolglose Künstler: ein todtrauriger Clown oder ein kleingewachsener Bauchredner. Traurigkeit und Melancholie sind allgegenwärtig. Die Beziehung zu Alice hält Tatischeff, der sein bisheriges Dasein vermutlich allein (mit dem Kaninchen) gefristet hat, am Leben, bildet das Herzstück dieses auf seine eigene Art wundervollen Animationsfilms. Denn trotz aller Tristesse punktet L’Illusioniste mit viel Charme und Humor. Mit wenigen Ausnahmen sind die Figuren liebevoll und teilweise etwas tollpatschig gezeichnet, wie etwa der Titelheld. Chomet und sein Zeichnerteam erzählen hier keine besonders große oder ausgefeilte Geschichte, sondern verzaubern ihr Publikum mit kleinen, liebevollen Details. Genau wie in Tatis Filmen spielen Dialogie hier keine große Rolle. Gesprochen wird wenig, man hört einzelne Charaktere nur ab und zu mal ein paar Worte auf Französisch, Englisch oder Gälisch wechseln oder aussprechen. Eine Synchronisation war daher auch überhaupt nicht notwendig, stattdessen werden an den wenigen betreffenden Stellen Untertitel eingeblendet.
Zwar hat Der Illusionist mittlerweile schon elf Jahre auf dem Buckel, doch wenn man Ende bei diversen Veranstaltungsorten wortwörtlich die Lichter ausgehen, dann fühlt man sich unweigerlich an die schmerzlichen Auswirkungen der immer noch andauernden Corona-Pandemie erinnert.
Fazit: Wundervoller, melancholischer Zeichentrickfilm über die Magie der kleinen Dinge und das schwere Leben eines wenig erfolgreichen Künstlers. 8 von 10 Punkten.
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Marius Joa, 30. Mai 2021. Bilder: Arthaus/Studiocanal.
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