Drugstore Indians

Vor allem durch die Bücher von Karl May und die darauf basierenden Winnetou-Filme rufen amerikanische Ureinwohner große Faszination unter Deutschen hervor. Mira Sommer hat die Indianistikszene und deren Kontakte zu echten Natives in ihrem Dokumentarfilm Drugstore Indians begleitet und so versucht der Faszination für die „Edlen Wilden“ auf den Grund zu gehen…

Drugstore Indians
Dokumentation Deutschland 2016. 146 Minuten. Regie: Mira Sommer.

 


Außen rot und innen weiß – außen weiß und innen rot

Die Sichtung und Besprechung des vorliegenden Films ist vor allem deshalb etwas besonderes für mich, weil ich die Regisseurin persönlich kenne. Mira und ich trafen uns das erste Mal Ende Juli 2004 bei einem Herr der Ringe-Fantreffen auf dem Schwanberg (Landkreis Kitzingen), bei welchem fast alle der Anwesenden auch Gewandung trugen. Erst 13 Jahre später sollten wir uns zum zweiten Mal begegnen, auf einer Cosplay-Party in Miras Heimatstadt Leipzig. Cosplay ist aber nur eines von vielen Dingen, mit denen sich Frau Sommer beschäftigt, etwa wenn sie gemeinsam mit einer Freundin die Opening Credits von True Blood, The Walking Dead und Penny Dreadful als Fanvideos nachspielte oder diverse Premieren der Hobbit-Trilogie als Waldelbenkönig(in) mit ihrer Anwesenheit beehrte. Ihre Vita reicht für mehr als ein Leben.

Mira Sommer stammt aus Leipzig. Während des Germanistik- und Journalistik-Studiums an der dortigen Universität ging Mira auch bei ihrem Vater, dem Künstler Gerd Sommer, in die Lehre und erlernte Malerei, Restauration sowie Innenarchitektur/Design. Nach Abschluss des Studiums folgten diverse Weiterbildungen im Bereich Kostüm- und Setdesign, etwa bei WETA Workshop (der neuseeländischen Firma, die Kostüme, Requisiten und Waffen für die Ring-Trilogie von Peter Jackson erschuf) sowie Tanz und Feuershows. An der Fernsehakademie Mitteldeutschland absolvierte Mira eine Ausbildung für Fotografie und Kamera und war an diversen Produktionen in unterschiedlichster Funktion beteiligt, etwa als Redakteurin von Leipzig tanzt schwarz (2008), einer halbstündigen Doku über das jährliche stattfindende Wave Gotik Treffen in Leipzig (hier auf Youtube zu sehen) oder als Darstellerin im Tolkien-Fanfilm Luthiens Traum (2009) sowie in der Blutsauger-Mockumentary Kevin – Die Vampir-Doku (2008). Als Mitglied des Leipziger Künstler-Quartetts „Apocalyptic 4“, zu welchem außerdem die Schauspieler Katja Göhler und Kevin Körber sowie Theaterdramaturgin Cynthia Friedrichs gehören, drehte Mira Filmszenen für die beiden Multimedia-Theaterproduktionen #Perfectland (2016/17) und Forever Dead (2018). Bereits im Grundschulalter stellte Mira erstmal eigene Bilder aus. Es sollten weitere Ausstellungen folgen, etwa 2019 eine Kollaboration mit Yoko Ono und anderen Künstlern im Museum der Bildenden Künste Leipzig. Gemeinsam mit ihrer Schwester Nora stellte Mira dieses Jahr Tarot-Kunst aus. Die Ausstellung in der Absintheria Sixtina in Leipzig musste allerdings wegen der Ausgangsbeschränkungen in der aktuellen Corona-Krise im März 2020 vorzeitig beendet werden.

In ihrem bisher einzigen Langfilm als Regisseurin widmet sich die Künstlerin aber einem ganz anderen Thema zu: der Indianistikszene in Deutschland und der ungebrochenen Faszination für die Ureinwohner Amerikas. Drugstore Indians gehört aber nicht zu den etwa einstündigen Doku-Featurettes, wie sie tagtäglich bei Arte oder 3sat gesendet werden. Auch 90 Minuten reichen hier nicht aus, um dem Thema gerecht zu werden. Daher dauert die 2016 in Leipzig uraufgeführte Dokumentation fast zweieinhalb Stunden. Das mag jetzt furchtbar langwierig klingen, aber der Film nutzt diese Laufzeit gekonnt aus, um Begegnung an Begegnung zu reihen und so eine organische, intuitive Chronologie zu erschaffen, fernab von nüchterner Fakten-Präsentation. Auf den üblichen Erzähler wird hier auch weitgehend verzichtet und der Schwerpunkt auf viele Interviews gelegt.

Besonders im Osten Deutschland hat die Faszination für Indianer eine lange Tradition. Der hierzulande älteste Indianerverein wurde bereits in den 1950er Jahren in Taucha bei Leipzig gegründet. Als Gegenentwurf zum kolonialistisch-kapitalistischen Amerika, welches die indigenen Völker unterdrückt, war diese Art der Freizeitbeschäftigung von der DDR-Führung durchaus akzeptiert. Ab Beginn der 1960er Jahre produzierte die DEFA gut ein Dutzend eigener Indianerfilme (in welchen der serbische Schauspieler Gojko Mitic verschiedene Stammeshäuptlinge verkörperte), als Kontrastprogramm zu den Winnetou-Filmen.

Am häufigsten trifft man Leute, die ihrer Leidenschaft für die Ureinwohner Amerikas frönen, natürlich auf Powwows, jenen traditonellen Zusammenkünften, auf welcher sich die unterschiedlichen Stämme präsentieren. Musik, Tanz und gemeinsames Feiern sind zentrale Bestandteile dieser Treffen. Auch echte „Natives“ werden zu diesen Veranstaltungen eingeladen, nicht selten als Ehrengäste oder als Performer. Im Film kommen Hobbyisten wie Wolfgang Lessig, Schakira Ostara, die sich mit Tänzen der Azteken und anderer Vlker beschäftigt und diese als Teil einer Gruppe auch performt, und Jörn Lamprecht, dessen Schwerpunkt im Reenactment historischer Irokesen liegt, zu Wort. Aber auch echte Angehörige der „First Nations“ treten vor die Kamera und erzählen von ihren Erfahrungen. Murray Small Legs vom Stamme der Blackfeet ist u.a. als Tänzer und Schöpfer von Kunsthandwerk aktiv. Mit seiner deutschen Ehefrau Antje betreibt er den Zwei Welten Fachverlag, der authentische Materialien für Unterricht und Freizeit zum Thema „Indianer Nordamerikas“ liefert. Oder Musiker Clayson Benally aus dem US-Bundesstaat Arizona, der mit seinen Geschwistern die Band Blackfire ins Leben gerufen hat. Das Trio vermischt traditonelle Musik der Navajo mit Punkrock und wendet sich gegen politische Unterdrückung der Natives.

Das Herzstück von Drugstore Indians bildet allerdings eindeutig Rodney C. „Elk Chief“ Skenandore (siehe Poster). Vor allem seine turbulente Biografie macht den Mitbegründer des „American Indian Movements“ zu einem perfekten Akteur und Gesprächspartner. Während seiner Zeit bei der US-Army war Elk Chief in Europa stationiert. Nach seinem Studium arbeitete er bis Ende der 1960er als Raumfahrtingenieur für die NASA. Rodney hat sich aber vor allem einen Namen als Künstler gemacht. Er schuf Bilder, Designs, Schmuck, Holzschnitzereien, Skulpturen, Möbel und auch Musik. Als Medizinmann bzw. Autor propagierte Elk Chief das Leben im Einklang mit Mutter Erde. In seiner Wahlheimat im Harz leitete er gemeinsam mit Ehefrau Gudrun Sonnentanz-Zeremonien. Im August 2017 verstarb Rodney im Alter von 78 Jahren. Der vorliegende Film wurde ihm nachträglich gewidmet.

Drugstore Indians zeichnet vor allem ein faszinierend vielschichtiges Bild über die „Freizeit-Indianer“ und vor allem die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten der Native Americans heute. Erstaunlich , dass diese ausführliche Doku von lediglich drei Personen gestemmt wurde: Mira Sommer (Buch, Regie, Kamera, Schnitt, Produktion), Silke von Durschefsky (Musik, Ton, Produktion) und Julian Bela (Kameraassistenz).

Die komplette Dokumentation Drugstore Indians kann man sich HIER (aufgeteilt auf fünf Videos) kostenlos bei Youtube ansehen.

Fazit: Mit epischer Länge vermittelt Drugstore Indians interessante, authentische Einblicke in die vielfältige, bunte Indianistikszene Deutschlands und stellt sowohl Hobbyisten als auch echte Natives in den Mittelpunkt. 8 von 10 Punkten.

Linktipp:
Interview mit Mira Sommer




Marius Joa, 3. Mai 2020. Bilder: BTK Bildtonkunst/Goldy Wisdom Records.

 


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