Nach ihrem Filmdebüt in Derek Jarmans Künstlerbiografie Caravaggio (1986) war Tilda Swinton im gleichen Jahr auch noch in Egomania – Insel ohne Hoffnung unter Regie von Theaterregisseur und Aktionskünstler Christoph Schlingensief (1960-2010) zu sehen. Eine kuriose Filmerfahrung.
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Egomania – Insel ohne Hoffnung
Experimentalfilm Deutschland 1986. FSK: Freigeben ab 16 Jahren. 83 Minuten (PAL-DVD). Kinostart: 20. Mai 1987.
Mit: Udo Kier, Tilda Swinton, Uwe Fellensiek, Volker Bertzky, Anna Fechter, Anastasia Kudelka, Dietrich Kuhlbrodt u.a. Drehbuch und Regie: Christoph Schlingensief.
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Eiland des Wahnsinns
Auf einer abgelegenen Insel lebt nur eine Handvoll Menschen über welche der tyrannische Baron (Uod Kier) herrscht. Die Liebe zwischen William (Uwe Fellensiek) und Sally (Tilda Swinton) bedroht den fragilen Frieden auf dem Eiland. Sogleich macht sich der Baron daran, das junge Glück zu zerstören…
Tilda Swinton als Sally
Seit einigen Jahren verehre ich die schottische Schauspielerin, Performance-Künstlerin und Fashion-Ikone Tilda Swinton (geboren am 5. November 1960), die sowohl im Arthouse- als auch im Blockbuster-Kino mit eindrucksvollen Performances ihre Wandelbarkeit immer wieder aufs Neue beweist, sehr. Den kürzlichen 60. Geburtstag der Oscar-Gewinnern (als beste Nebendarstellerin für Michael Clayton) nehme ich nun zum Anlass mich etwas eingehender mit ihrem filmischen Werk zu befassen.
Nach dem Uni-Abschluss in Sozial- und Politikwissenschaften in Cambridge wandte sich Swinton 1983 der Schauspielerei zu. Diversen Theaterstücken folgte 1986 ihr Filmdebüt in Caravaggio, Derek Jarmans Biographie des italienischen Barockmalers. Im gleichen Jahr feierte Egomania – Insel der Hoffnung Premiere auf den Internationalen Hofer Filmtagen, in welchem Tilda Swinton unter Regie des Theater- und Film-Regisseurs, Aktionskünstlers und Autors Christoph Schlingensief (1960-2010) agiert. Swinton und Schlingensief waren zu dieser Zeit ein Paar.
Nach (oder genau genommen schon während) der Sichtung von Egomania fragte ich mich:Was ist/war das eigentlich? Einen Spielfilm mit herkömmlicher Story hat Schlingensief mit seinem dritten Streifen nicht wirklich geschaffen. Zwar gibt es einen losen narrativen Faden (den ich in der kurzen Inhaltsangabe versucht habe zu skizzieren), aber ansonsten verweigert sich das Gezeigte weitgehend klassischen filmischen Gesetzmäßigkeiten. Stattdessen lebt Egomania von seiner Kombination aus überbordender Inszenierung und absurden Szenen, die sich aus meiner Sicht so oder ähnlich umschreiben lassen: eine hemmungslos überarbeitete Theatertruppe verfilmt gleichzeitig Der Sturm und Macbeth von Shakespeare sowie Goethes Faust inklusive Wagnerschem Pathos und diversen Anleihen/Zitaten aus dem Neuen Testament, der Nibelungensage und vereinzelten Märchen-Motiven, all das in der Ästhetik eines Giallos à la Suspiria.
Schlingensief (für Regie, Drehbuch und unter seinem weiblichen Pseudonym Thekla von Mühlheim auch für den Schnitt verantwortlich) ging hier ziemlich aufs Ganze, machte das Beste aus dem kärglichen Budget (ca. 89.000 DM) und den unwirtlichen Wetterbedingungen. Den die als Schauplatz dienende klitzekleine Ostseeinsel wurde während der Dreharbeiten von schweren Schneefällen und Stürmen heimgesucht, welche die Natur des Films nachhaltig beeinträchtigen, wie Schlingensief in einem kurzen Interview erklärt, welches als Bonusmaterial auf der DVD zu finden ist. Trotz (oder vielleicht wegen) aller Widrigkeiten wird hier ein künstlich-ironisch aufgebauschtes Drama in kriseligem Fernsehfilm-Bildformat inszeniert, mit hemmungslos übertriebener Soundkulisse, einer teils absichtlich unpassenden Musikuntermalung (unter anderem von Schlingensief selbst und einem gewissen Helge Schneider komponiert) und wechselnden Farbfiltern in bester Argento- oder Bava-Manier.
Tilda Swintons Sally irrt meist als eine Art getriebenes Aschenputtel durch den Film. Ihren Liebhaber William gibt Uwe Fellensiek (Manta Manta), der später als Hauptdarsteller in der Krimiserie SK Kölsch (1999-2006) einem größeren Publikum bekannt wurde. In einer kleinen Rolle ist außerdem Dietrich Kuhlbrodt zu sehen. Der zwischen seinem Hauptberuf als Staatsanwalt (mittlerweile a.D.) und Schauspieler (seit 2011 auch Mitglied des verrückten Dada-Künstlerkollektivs Hgich.T) pendelnde Jurist spielt hier passenderweise einen Notar. Doch Egomania fungiert natürlich als große Bühne für Udo Kier, gleichermaßen bekannt für Rollen in hochwertigen Arthausfilmen (z.B. Dancer in the Dark) und diversen B-Movies (zuletzt etwa Iron Sky oder Ulysses: A Dark Odyssey), hier dermaßen aufgedreht, dass selbst der heutige Over-Acting-Aficionado Nicholas Cage noch etwas lernen kann. Im Grunde spielt Kier drei Rollen: den lüsternen Dracula mit charakteristischem Smoking und Umhang, den Baron als Dandy mit Pelzmantel und Zylinder, sowie in Frauenkleidern die Tante des Teufels, die im Stile alter Monty-Python-Sketche durch die karge Insellandschaft stakst.
Egomania – Insel ohne Hoffnung ist auf DVD erhältlich und als kostenpflichtiger Stream bei Vimeo, MUBI sowie Amazon abrufbar.
Fazit: Kruder, absurder Bilderrausch zwischen Trash und Kunstkino mit einem irre aufspielenden Udo Kier. Oder um es mit den Worten des Filmes zu sagen: „Ein anderes Weltenende wird es nicht geben!“ 7 von 10 Punkten.
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Tante Teufel und ihr Gehilfe Anatol
Die Hexen verfolgen Sally
Der Baron
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Marius Joa, 11. November 2020. Bilder: Filmgalerie 451.
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