In Kolumbien hilft eine Frau ihrer kranken Schwester. Doch ein merkwürdiges Geräusch lässt sie nicht los, in Memoria vom thailändischen Regisseur Apichatpong Weerasethakul, mit Tilda Swinton in der Hauptrolle.
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Memoria
Mysterydrama Thailand, Kolumbien, UK, Frankreich, Deutschland, Mexiko, China, Taiwan, USA, Schweiz 2021. FSK: Freigegeben ab 12 Jahren. 136 Minuten. Kinostart: 5. Mai 2022.
Mit: Tilda Swinton, Elkin Diaz, Jeanne Balibar, Juan Pablo Urrego, Daniel Giménez Cacho, Agnes Brekke u.a. Drehbuch und Regie: Apichatpong Weerasethakul.
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Erinnerungen und Geräusche
Jessica (Tilda Swinton) ist eine schottische Orchideenzüchterin, die seit einiger Zeit in der kolumbianischen Hauptstadt Bogota weilt, wo sie ihrer im Krankenhaus liegenden Schwester Karen (Agnes Brekke) hilft. Eines Morgens erwacht Jessica von einem merkwürdigen, lauten Geräusch und leidet fortan unter Schlaflosigkeit. Ihr Schwager, der Professor Juan (Daniel Giménez Cacho), vermittelt sie an den jungen Tontechniker Hernán (Juan Pablo Urrego), mit dessen Hilfe Jessica das Geräusch nachbilden kann. Außerdem freundet sich Jessica mit der Archäologin Agnes (Jeanne Balibar) an, die alte menschliche Überreste, welche beim Bau eines Tunnels durch die Anden gefunden wurden, untersucht. Der Geräusch kehrt wieder und so verlässt Jessica die Großstadt. Auf dem Land trifft sie auf den Einsiedler Hernán (Elkin Diaz), der sich an alles erinnern kann und deshalb den Entschluss gefasst hat, sein Heimatdorf nicht zu verlassen. Die beiden kommen ins Gespräch und teilen Erinnerungen miteinander…
Bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 2004 gewann Tropical Malady, ein Werk des thailändischen Filmemachers Apichatpong Weerasethakul (geboren 1970), den Preis der Jury. Zu jenem Gremium gehörte damals auch die schottische Schauspielerin Tilda Swinton. Der Regisseur und die Darstellerin diskutierten damals erstmals eine mögliche Zusammenarbeit. Bis es allerdings dazu kam sollten noch eineinhalb Jahrzehnte vergehen. Für Apichatpong Weerasethakul, der bisher fast ausschließlich in seiner Heimat gedreht hatte, war es klar, dass die Kollaboratin in einem Land stattfinden sollte, welches für beide fremd sei. Als der Filmemacher 2017 Kolumbien bereiste begann er am Exploding Head Syndrome zu leiden, laut Wikipedia ein “Zustand, bei dem eine Person beim Einschlafen oder Aufwachen laute Geräusche hört und/oder ein explosives Gefühl hat”. Apichatpong kam zum Entschluss, seinen auf einem eigenen Traum beruhenden Film in Kolumbien zu machen. Von August bis November 2019 fanden die Dreharbeiten zu Memoria in der Hauptstadt Bogotá sowie in Medellin und Pijao statt. Die Weltpremiere erfolgt wiederum beim Filmfestival von Cannes im Juli 2021, wo der Regisseur erneut den Preis der Jury gewinnen konnte, nachdem sein Film Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben elf Jahre zuvor den Hauptpreis erhalten hatte.
Memoria, eine internationale Zusammenarbeit von unzähligen Produktionsfirmen und Geldgebern aus zehn Ländern (darunter neben Thailand und Kolumbien auch aus dem Vereinigten Königreich, China, Taiwan und Deutschland), erweist sich früh als ziemlich leiser Film. Diese fast mediative Ruhe macht natürlich das auftretende Geräusch, welches die Protagonistin immer wieder hört und als große Betonkugel, die durch einen Metallschacht ins Wasser fällt, beschreibt, umso wirkungsvoller. Apichatpong Weerasethakul, der auch das Drehbuch schrieb, verweigert sich einer klar ausformulierten Handlung oder klassischen Dramaturgie, ähnlich wie es Wong Kar-Wai (u.a. In the Mood for Love) aus Hong Kong für gewöhnlich tut.
Die von einer völlig unglamourös und minimalistisch agierenden Tilda Swinton (die ihre umfangreichen spanischen Dialoge zudem hervorragend meistert) verkörperte Jessica fungiert als Suchende in einem für sie fremden Land, dessen vielfältige Vergangenheit auf allerlei erdenkliche Weise nachhallt, seien es das Erbe indigener Völker, die Nachwirkungen von Kolonialismus, das Trauma der Militärdiktatur oder der immer noch nicht ganz ausgestandene Guerilla-Krieg. Doch die für sie wichtigen Erkenntnisse findet Jessica nicht im Trubel der Großstadt, in der Bibliothek oder bei den Ausgrabungen, sondern in der Begegnung mit einem Einsiedler, der den gleichen Namen wie der junge Tontechniker trägt, welcher das Geräusch im Studio nachgebildet hat.
Obgleich immer wieder Details als mögliche Hinweise eingestreut werden so überlasst der Film den Zuschauern selbst, das Geschehen zu interpretieren, macht es diesen mit seiner bewussten Langsamkeit und im positiven Sinne unspektakulären Geschichte nicht leicht. Wie gewöhnlich drehte der Regisseur nicht digital sondern auf 35mm-Film. Kameramann Sayombhu Mukdeeprom nutzte für die charakteristischen langen Einstellungen das Maximum einer solchen Filmrolle von etwa 14 Minuten komplett aus.
Memoria von Apichatpong Weerasethakul ist seit dem 5. August 2022 Teil des Angebots des Arthouse-Streamingdienstes MUBI.
Fazit: Leises, meditatives Drama über individuelle und kollektive Erinnerungen sowie die Geister vergangener Zeiten. 8 von 10 Punkten.
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Im Tonstudio
Im Atrium
Begegnung mit dem Einsiedler
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Marius Joa, 2. Oktober 2022. Bilder: Port au Prince Pictures/MUBI.
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