Die Erfolgsgeschichte von Meisterdetektiv Hercule Poirot im Kino begann 1974 mit Mord im Orientexpress. 43 Jahre später steht eine Neuadaption vor der Tür. Doch erst einmal lohnt sich der Blick auf die unglaublich starbesetzte Verfilmung von Sidney Lumet.
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Mord im Orientexpress (Murder On The Orient Express)
Krimi UK 1974. FSK: Freigegeben ab 12 Jahren. 122 Minuten (PAL-DVD).
Mit: Albert Finney, Lauren Bacall, Martin Balsam, Ingrid Bergman, Jacqueline Bisset, Jean-Pierre Cassel, Sean Connery, John Gielgud, Wendy Hiller, Anthony Perkins, Vanessa Redgrave, Rachel Roberts, Richard Widmark, Michael York, Colin Blakely, George Coulouris, Dennis Quilley u.a. Regie: Sidney Lumet. Drehbuch: Paul Dehn und Anthony Shaffer. Nach dem Roman von Agatha Christie.
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Poirot und die 12 Passagiere
Dezember 1935. Nachdem er einen wichtigen Auftrag in Syrien erledigt hat, befindet sich Hercule Poirot (Albert Finney) auf dem Rückweg nach London. In Istanbul trifft der belgische Meisterdetektiv auf seinen alten Freund Bianchi (Martin Balsam), dem Eigentümer der Orientexpress-Zuglinie. Obwohl der renommierte Zug von Istanbul nach Paris (mit Anschluss nach London) unerwarteterweise ausgebucht ist, erhält Poirot doch noch ein Abteil. Die zweite Nacht endet für ihn und die anderen Passagiere aber mit einem bösen Erwachen im doppelten Sinne. Irgendwo in Jugoslawien steckt der Orientexpress in einer Schneeverwehung fest. Und der geheimnisvolle Geschäftsmann Ratchett (Richard Widmark), der Poirot tags zuvor noch vergeblich als Leinwächter engagierten wollte, liegt tot in seinem Abteil, ermordet mit zwölf Messerstichen. Unterstützt von Bianchi und dem griechischen Arzt Dr. Constantine (George Coulouris) beginnt Poirot seine Ermittlungen und befragt die anderen Zuggäste, darunter die greise russische Prinzessin Dragomiroff (Wendy Hiller), die Missionarin Greta Ohlsson (Ingrid Bergmann), die theatralische Mrs. Hubbard (Lauren Bacall), den ungarischen Diplomaten Graf Andrenyi (Michael York), Colonel Arbuthnott (Sean Connery) von der britisch-indischen Armee und Hector McQueen (Anthony Perkins), den Sekretär Ratchetts. Die Spur führt zu einem fünf Jahre alten Verbrechen, welches sich in den USA abgespielt hat…
Originales Kinoposter von 1974
Agatha Christie (1890-1976) gilt nicht umsonst als „Queen Of Crime“ und eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen überhaupt (ihre Gesamtauflage wird auf 2 Milliarden geschätzt). Neben der rüstigen Rentnerin Miss Marple erfand die britische Autorin auch den belgischen Meisterdetektiven Hercule Poirot, der in 33 Romanen und über 50 Kurzgeschichten ermittelte. Mit den frühen Verfilmungen seiner Fälle war Christie nicht zufrieden und daher nicht gerade sehr begeistert von Plänen einer Adaption des Romans Mord im Orientexpress (1934). Doch Produzent John Brabourne konnte die Autorin mit der Hilfe seines Schwiegervaters Lord Louis Mountbatten (dem Onkel von Prinz Philip von England) überzeugen. Mit massiver Starbesetzung drehte Regisseur Sidney Lumet (Die 12 Geschworenen, The Verdict) 1973 in den Elstree Studios in England und Außenaufnahmen in Frankreich. Bei einem Budget von gut 500 000 Pfund (ca. 1,4 Millionen US-Dollar) spielte Murder On The Orient Express nach seiner Premiere im November 1974 knapp 36 Millonen Dollar ein. Nicht nur die Filmkritiker seinerzeit, auch Agatha Christie selbst zeigte sich vom Endergebnis begeistert.
Hauptdarsteller Albert Finney, zum Zeitpunkt der Dreharbeiten gerade einmal 37 Jahre alt, musste für seine Verwandlung in den älteren, übergewichtigen Hercule Poirot viel Zeit in der Maske verbringen. Weil Finney parallel noch in einem Theaterstück in London spielte, wurde er noch im schlafenden Zustand von seiner Wohnung zum Filmstudio transportiert und ihm währenddessen das Makeup aufgetragen. Sicherlich weniger herumgebastelt wurde am Drehbuch von Paul Dehn (Goldfinger, Planet der Affen) und Bühnenautor Anthony Shaffer, der weder im Vor- noch im Abspann genannt wurde, und später mit Tod auf dem Nil, Das Böse unter der Sonne sowie Rendezvous mit einer Leiche weitere Poirot-Romane für die große Leinwand adaptierten sollte. Aus Ratchetts Butler Masterman wurde der von Shakespeare-Ikone John Gielgud verkörperte Diener Beddoes und Monsieur Bouc, Besitzer der Zuglinie, wurde im Film zu Signor Bianchi.
Aus heutiger Sicht erscheint es äußerst ungewöhnlich, dass ein Kriminalfilm so bedächtig (und fast etwas bieder) inszeniert wurde. Vordergründig spannend wird es selten, wenngleich die angespannte Situation, welche die Beteiligten stranden lässt, hinter dem Glamour nicht völlig zurücktritt. Wie bei einer Revue lässt Ermittler Poirot nacheinander die einzelnen Verdächtigen und ihre schillernden Darsteller antreten. Der erste James Bond, Norman Bates (Psycho) und Ilsa Lund aus Casablanca geben sich hier im direkten Sinne die Klinke in die Hand, interagieren mit kaum weniger bekannten Namen wie Vanessa Redgrave (Blow Up, Wiedersehen in Howard’s End) und Lauren Bacall (Tote schlafen fest, Dogville). Eine vergleichbare Besetzung würde heutzutage das Produktionsbudget vermutlich in die Milliarden treiben. Lauren Bacall, Colin Blakely, Dennis Quilley und John Gielgud agierten später noch in weiteren Poirot-Filmen.
Den inszenatorischen und schauspielerischen Höhepunkt liefert das Gespräch mit der von Ingrid Bergman zum Leben erweckten, geistig etwas minderbemittelten schwedischen Missionarin Greta Ohlsson. Über fünf Minuten ohne Schnitt verharrt die Kamera von Geoffrey Unsworth (2001: Odyssee im Weltraum) auf Bergmans Gesicht. Diese eindrucksvolle, wenngleich kurze Performance brachte der schwedischen Leinwandlegende (1915-1982) einen Oscar als beste Nebendarstellerin, ihr dritter Academy Award. Nominiert waren außerdem Hauptdarsteller Albert Finney sowie Drehbuch, Musik, Kostüme und Kameraführung. Mord im Orientexpress, egal ob in literarischer oder filmischer Form, steht und fällt natürlich mit der Auflösung des Mordfalles. Bei der Hintergrundgeschichte ließ sich Agatha Christie durch den realen Fall des entführten (und später ermordeten Sohnes) von Flugpionier Charles Lindbergh inspirieren. Die größtmögliche Wirkung erreicht der Film vermutlich, wenn man ihn als Zuschauer völlig ohne Vorkenntnisse erlebt.
Mord im Orientexpress sollte weder die einzige Adaption des Romans noch der weiteren Werke mit Poirot bleiben. Ab 1978 spielte der russisch-britische Schauspieler Peter Ustinov sechsmal den belgischen Detektiv, dreimal fürs Kino (Tod auf dem Nil, Das Böse unter der Sonne, Rendezvous mit einer Leiche) sowie in drei TV-Produktionen. 2001 erschien im amerikanischen Fernsehen eine von Regisseur Carl Schenkel inszenierte, ideenlose Version des „Orientexpress“-Falls im 21. Jahrhundert, mit Alfred Molina als Poirot, der zu Recherchezwecken im Internet (!) surft. Wesentlich besser machte es die Adaption im Rahmen der TV-Serie Agatha Christie’s Poirot (mit David Suchet in der Titelrolle), von 2010 ebenfalls mit beachtlichem Ensemble (u.a. Toby Jones, Jessica Chastain, David Morrissey, Eileen Atkins und Barbara Hershey).
Am 9. November 2017 startet eine Neuinterpretation in den deutschen Kinos. Regie führt Shakespeare-Experte Kenneth Branagh, nach einem Drehbuch von Michael Green, und führt als Poirot mit peinlich aussehendem Schnurrbart ein Starensemble (Penélope Cruz, Willem Dafoe, Judi Dench, Johnny Depp, Derek Jacobi, Michelle Pfeiffer und Daisy Ridley) an. Der Trailer erweckt den Eindruck eines effektheischenden Thrillers und lässt mich im Vorfeld schon an der Notwendigkeit einer weiteren Leinwand-Adaption zweifeln.
Im Zuge der Neuverfilmung von Kenneth Branagh veröffentlicht Studiocanal am 2. November 2017 eine Remastered-Version des 1974er Films auf DVD und BluRay. Eine gute Entscheidung, wenn man sich die eher schwache Bildqualität der bisherigen Heimkinoauswertungen vor Augen führt.
Fazit: Mit zeitgenössischem Glamour und großer Starbesetzung, gleichzeitig unspektakulär und schnörkellos brachte Regisseur Sidney Lumet den vermutlich bekanntesten Fall von Agatha Christies belgischem Meisterdetektiv erstmals auf die große Leinwand. 9 von 10 Punkten.
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Ratchett (rechts) wird ermordet
Poirot interviewt die Passagiere…
…und präsentiert seine Lösung des Falles
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Marius Joa, 22. Oktober 2017. Bilder: Kinowelt/Studiocanal.
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