Orlando (1992)

Vor 30 Jahren feierte Orlando, die Verfilmung von Virginia Woolfs gleichnamigen Roman durch Regisseurin Sally Potter, seine Weltpremiere bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig. Tilda Swinton spielt darin die unsterbliche Titelfigur.

Orlando
Historiensatire/Fantasy UK, Frankreich, Italien, Niederlande, Russland 1992. FSK: Freigegeben ab 12 Jahren. 94 Minuten. Kinostart: 28. Januar 1993.
Mit: Tilda Swinton, John Wood, Lothaire Bluteau, Billy Zane, Heathcote Williams, Charlotte Valandrey, Quentin Crisp, Jimmy Somerville, Anna Healy, Simon Russell Beale u.v.a. Nach dem Roman von Virginia Woolf. Drehbuch und Regie: Sally Potter.

 

 


Who wants to live forever?

Orlando (Tilda Swinton) ist ein junger Günstling am Hofe von Englands Königin Elisabeth II. (Quentin Crisp). Die greise Herrscherin schenkt ihm eines Tages einen Titel und Ländereien, allerdings unter der Bedingung, dass er niemals altere. Orlando kommt diesem Wunsch nach und lebt Jahrhunderte lang ohne älter zu werden. Während des großen Frostes in London verliebt sich Orlando in Sasha (Charlotte Valandrey), die Tochter des russischen Botschaftes, doch sie verlässt ihn. Orlando zieht sich daraufhin in seinen einsamen Landsitz zurück, um sich ganz der Poesie zu widmen. Einige Zeit später wird Orlando zum Botschafter des Britischen Empires in Konstantinopel ernannt wo er auf den dort herrschenden Khan (Lothaire Bluteau) trifft. Nach Kämpfen mit den Feinden des Khans fällt Orlando in einen siebentägigen Schlaf und erwacht aus diesem als Frau. Zurück in England muss Lady Orlando damit zurechtkommen, dass ihr Titel und Ländereien wegen ihres geänderten Geschlechts nun streitig gemacht werden…

Es war ein Donnerstagabend und muss 1996 gewesen sein. Ich war 15 und im deutschen Fernsehen wurde zum ersten Mal Orlando von Sally Potter gezeigt, der damals die Frucht meiner erst einige Jahre später beginnende Verehrung für die schottische Schauspielerin Tilda Swinton (geboren 1960) gesät hat. Der Film, in welchem die Titelfigur zu Beginn ein Mann ist und im Verlauf der Handlung plötzlich zur Frau wird. Und doch steckt so viel mehr hinter diesem besonderen Werk des Arthouse-Kinos.

Die britische Schriftstellerin Virginia Woolf (1882-1941) veröffentlichte 1928 den Roman Orlando – Eine Biographie (Orlando: A Biography). Darin wird das Leben eines Adeligen beschrieben der vom 16. Jahrhundert an die Epochen englischer Geschichte bis in die Gegenwart (1928) durchlebt, ohne zu altern. Zwischenzeitlich wechselt Orlando das Geschlecht und wird zur Frau. Woolf verfasste das Buch einerseits als Hommage an und fiktive Biographie ihrer Geliebten Vita Sackville-West (1892-1962), andererseits aber auch als Satire auf die wechselnden Eigenheiten unterschiedlicher Zeitepochen. Die Filmemacherin, Musikerin und Choreographin Sally Potter (geboren 1949) las den Roman als Teenager und wollte diesen unbedingt für die große Leinwand adaptieren. 1987 schrieb Potter das erste Treatment. In Tilda Swinton fand Potter die perfekt geeignete Akteurin für die zentrale Rolle des/der Orlando. Swinton hatte Potter durch ihre gekonnte Darstellung männlicher Körpersprache im Stück Mann ist Mann von Bertolt Brecht, welches von Manfred Karge inszeniert worden war, überzeugt. Um Geldgeber für das Filmprojekt zu finden wurde ein Storyboard erstellt, welches viele Fotos von Swinton in historischen Kostümen enthielt. Dennoch gestaltete sich die Finanzierung als schwierig.

Dank weiterer Produktionsfirmen aus mehreren Ländern, unter anderem Lenfilm aus Russland, konnten Sally Potter und Produzent Christopher Sheppard schließlich das benötigte Budget von etwa sechs Millionen Pfund (ca. vier Millionen US-Dollar), nicht gerade viel für eine Historienfilmproduktion, auftreiben. Gedreht wurde fast ausschließlich an Originalschauplätzen. In England waren dies die Schlösser Blenheim Palace, Hatfield House und Hampton Court. Die Aufnahmen für das von Eis und Schnee gezeichnete London fanden im russischen Sankt Petersburg statt. Als Konstantinopel doubelte die Oasenstadt Xiva in Usbekistan. Nicht nur hinsichtlich der Geldgeber präsentierte sich Orlando als internationale Produktion, auch der Stab setzte sich aus Filmschaffenden aus diversen Ländern zusammen, etwa dem niederländischen Setdesignern Ben van Os und Jan Roelfs, dem russischen Kameramann Aleksey Rodionov und dem französischen Cutter Hervé Schneid. Die Kostüme entwarf Sandy Powell, die Komposition der Musik übernahm die Regisseurin gemeinsam mit David Motion. Zum Musikerensemble gehörten unter anderem auch Lindsay Cooper und Fred Frith, beide Mitglieder der Avantrock-Formation Henry Cow sowie Jimmy Somerville, bekannt für seinen Falsett-Gesang bei Bronski Beat und The Communards, der auch zwei kleine Parts im Film hat.

Neben den Herausforderungen während der Vorbereitungen und des Drehs, von welchen die als Bonusmaterial auf der BluRay enthaltenen Dokus Orlando geht nach Russland und Orlando in Usbekistan Zeugnis ablegen, musste Potter die Handlung des Romans im Zuge der Adaption stark kürzen. Dass sich Woolf in ihrem Buch direkt an die Leserschaft wendet wurde dahingehend übernommen, dass Orlando immer wieder in die Kamera blickt und dezent humorvoll die vierte Wand durchbricht. Generell empfinde ich den Film als Satire auf die Eigenheiten der unterschiedlichen Zeitepochen welche die Titelfigur aufgrund ihrer Unsterblichkeit durchlebt und welche sich besonders in den teils überbordenden Kostümen manifestiert. Orlando entzieht sich einer klassischen Dramaturgie und wird thematisch in sieben Teile aufgesplittet (Tod, Liebe, Poesie, Politik, Gesellschaft, Sex und Geburt), alle konkreten Jahreszahlen oder Zeitspannen zugeordnet. Jeder Epochenwechsel hat auch einen Wechsel der Augenfarbe bei Orlando zur Folge.

Die meiste Zeit über ist die schillernde Titelfigur ein Außenseiter, ein Fremdkörper, der nicht so recht in die Welt, in welcher er hineingeboren wurde, passen will. Ein Flüchtigter vor der Zeit und der Veränderung, versinnbildlicht etwa durch den Lauf durch das Labyrinth. Immer wieder hinterfragt er/sie die gesellschaftlichen Normen und versucht seinen/ihren eigenen Weg zu gehen. Am Ende findet sich die Titelfigur wie im Buch in der Gegenwart wieder, nur eben nicht im Jahre 1928, sondern 1992, dem Erscheinungsjahr des Films. Orlando hat ein Kind und steht kurz vor der Veröffentlichung ihres Buches. Orlando ist unsterblich und so könnte die Geschichte ewig weiter gehen. Quasi wie Highlander nur ohne Schwertkampf-Action und das ganze „Es-kann-nur-einen-geben“-Brimborium.

Sowohl Virginia Woolf als auch Sally Potter sehen das Geschlecht als ein Konstrukt der Gesellschaft. Und Tilda Swinton, für mich seit der ersten Sichtung eine der Personifikationen von Androgynität, bringt ihre ikonische Präsenz, ihre durchdringende Stimme zu 100 Prozent in diese prägende Rolle ein. Die anderen Figuren und Akteure sind da eher Beiwerk. Selbst der prominent im Vorspann und auf dem Poster präsente Billy Zane (Titanic) hat als Love Interest kaum mehr als zehn Minuten Screentime. Mindestens genauso wichtig erscheinen da John Wood (Der Tag des Falken, Chocolat) als Erherzzog Harry und Lothaire Bluteau (Die Tudors, Vikings [Serie]) als Khan. Passend zum Thema Genderswitching spielte mit Quentin Crisp (Sting schrieb über ihn den Song An Englishman in New York) eine Ikone der Homosexuellenbewegung die Rolle von Königin Elisabeth I.

Orlando von Sally Potter ist seit dem 27. Mai 2021 auf BluRay und (auch wieder auf) DVD erhältlich sowie als Stream bei Amazon, Apple TV, La Cinethek und dem Arthaus+ Channel.

Fazit: Trotz beschränkter Mittel schillerndes Porträt einer einzigartigen Person als experimenteller, filmischer Essay über Geschlecht und Identität im Laufe der Jahrhunderte mit einer einmaligen Tilda Swinton in der Rolle ihres Lebens. 9 von 10 Punkten.


Orlando und Königin Elisabeth I.
 

Einsamkeit und Poesie

Botschafter in Konstantinopel
 
 
Lady Orlando

 

BluRay-Features

Sprachen: Deutsch, Englisch.
Untertitel: Deutsch.

Extras
(alle im Original mit deutschen Untertiteln)
Making Of – Orlando in Usbekistan (53 Min.)
Videotagebuch – Orlando geht nach Russland (33 Min.)
Pressekonferenz bei den Filmfestspielen von Venedig (23 Min.)
Interview mit Sally Potter (13 Min.)
Jimmy war ein Engel (8 Min.)
Booklet mit einem Essay von Kulturjournalistin Annett Scheffel

Marius Joa, 25. September 2022. Bilder: Studiocanal

 


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