Einer der Schwerpunkte des 42. Internationalen Filmwochenendes in Würzburg bildete die Retrospektive auf Verfilmungen von Werken des polnischen Science-Fiction-Autors Stanisław Lem. Im Rahmen dieser Reihe wurde auch der Animations-/Realfilm-Mix The Congress von Regisseur Ari Folman (Waltz with Bashir) gezeigt.
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The Congress
Science-Fiction/Animationsfilm Frankreich/Israel/Belgien/Polen/Luxemburg/Deutschland 2013. FSK: Freigegeben ab 12 Jahren. 123 Minuten. Kinostart: 12. September 2013.
Mit: Robin Wright, Harvey Keitel, Danny Huston, Kodi Smit-McPhee, Jon Hamm, Paul Giamatti, Sami Gayle u.v.a. Drehbuch und Regie: Ari Folman. Nach Der futurologische Kongress von Stanisław Lem.
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Traumfabrik 2.0
Als ich kurz vor Mitternacht noch völlig berauscht von The Congress aus dem Kinosaal wanke, schwirrt mir durch den Kopf: warum braucht man Drogen, wenn es Filme wie diesen gibt? Warum muss man gefährliche Substanzen konsumieren, wenn man den gleichen Effekt einfach durch das Abspielen eines geeigneten Mediums erzielen kann?
Schauspielerin Robin Wright (bekannt durch Filme wie Die Braut des Prinzen und Forrest Gump bzw. aktuell die Netflix-Serie House Of Cards) ist Mitte 40 und lebt mit ihren beiden Kindern im Teenager-Alter, Tochter Sarah (Sami Gayle) und dem Luftfahrt-begeisterten Sohn Aaron (Kodi Smit-McPhee), in einem still gelegten Flugzeughangar. Da sie kaum noch besetzt wird, rät ihr langjähriger Agent Al (Harvey Keitel), das Angebot des großen Studios Miramount, vertreten durch Jeff Green (Danny Houston), anzunehmen. Gegen eine hohe Abfindung und der Bedingung, dass sie ihren Beruf aufgibt, soll Robins Körper sowie ihre Emotionen eingescannt werden, um dann mit der digitalen Figur alle erdenklichen Filme machen zu können, selbst die kommerziellen Streifen, die von ihr immer abgelehnt wurden. Robin lehnt dieses merkwürdige Angebot erst ab. Da sich der Zustand ihres begabten Sohnes Aaron, der unter dem Usher-Syndrom leidet (was ihn allmählich taub und blind werden lässt), aber allmählich verschlechtert, willigt Robin schließlich doch ein, lässt aber festlegen, dass der Vertrag auf 20 Jahre begrenzt wird.
Robin Wright wird eingescannt
20 Jahre später, Robin ist Mitte 60 und hat sich die meiste Zeit um ihren Sohn gekümmert, wird als Stargast auf den futurologischen Kongress eingeladen. Dieser findet ihn Abrahama statt, einer Welt, die der Animation vorbehalten ist. Nach Einnahme einer chemischen Droge verwandelt sich die reale Robin in eine Zeichentrickfigur und checkt im Tagungsort des Kongresses, dem gigantomanen Miramount Hotel ein. Dort erfährt Robin durch Film-Trailer auch, für was ihr digitales Ich verwendet wurde, nämlich vor allem die extrem erfolgreiche Scifi-Action-Filmreihe „Rebel Robot Robin“. Beim Treffen mit Jeff erklärt dieser, dass die Vertragsverlängerung eine Stufe weitergeht und vorsieht, dass man Robin bald auch trinken und somit alles mit ihr erleben könne, was man wolle. Als Robin anschließend für eine Rede auf die Bühne geholt wird, spricht sie sich gegen Realitätsflucht durch immer intensivere Drogen aus, die jegliche Fantasiewelt zu erschaffen vermögen. Als ein Angriff von Rebellen gegen die Scheinwelt für Chaos unter den Gästen sorgt, wird Robin von Animationskünstler Dylan (Jon Hamm) gerettet. Nach und nach rutscht sie aber immer tiefer in surreale Traumwelten ab…
Bei seiner dritten Regie-Arbeit, Waltz with Bashir (2008), verarbeitete der 1962 geborene israelische Filmemacher Ari Folman seine eigenen Erlebnisse als junger Soldat im Libanon-Konflikt 1982 als dokumentarischen Animationsfilm und gewann 2009 den Auslandsoscar. Für den folgenden Film ließ sich Folman durch den Roman Der futurologische Kongress des polnischen Science-Fiction-Autors Stanisław Lem (1921-2006) inspirieren. Im 1971 erschienen Buch erlebt der aus Lems Sternentagebücher (und der ZDF-Serien-Adaption) bekannte Astronaut Ijon Tichy die Wirkung von halluzingenen Substanzen auf dem titelgebenden Kongress und beginnt unter Realiätsverlust zu leiden. Die Prämisse der „Ruhigstellung“ der Bevölkerung in einer Dikatur durch Drogen übernahm Folman in sein Drehbuch.
Robin mit ihrer Tochter Sarah
Die ersten etwa 40 Minuten des Films sind eine zynische Hollywood-Realsatire. Robin Wright spielt hier eine fiktionalisierte Version von sich selbst, die viele Schattenseiten eines Schauspielerinnendaseins erlebt hat, deren Karriere ins Stocken geraten ist, vermutlich weil (so ihr Agent) sie sich mit Mitte 30 nicht hat liften lassen und als Frau über 40 sowieso keine ernstzunehmenden Rollen mehr bekommt. Sie verkauft die digitalen Rechte an ihrer Person (und damit auch an ihrer Identität) an ein großes Filmstudio und bleibt dadurch zumindest in digitaler Form für immer jung. Wie sehr sie von anderen ausgenutzt wird, bemerkt man nicht nur durch den kaum noch latenten abfälligen Ton von Studioboss Jeff, sondern auch in jener Szene, in welcher Robin gescannt werden soll. Damit sie alle notwendigen Emotionen und damit verbundene Gesichtsreaktionen abrufen kann, manipuliert sie ihr Agent Al mit einer zumindest teilweise erfundenen Geschichte und einer schonungslosen Beichte. 20 Jahre später macht sich Robin auf dem Weg zum Kongress und hier beginnt nun der Animationsteil des Films, ein surrealer Trip, ein grellbunter Bilderrausch in mannigfaltigen visuellen Stilrichtungen. Klassische Cartoonfiguren treffen auf die Zeichentrick-Versionen bekannter verstorbener Künstler und Ikonen aller Arten (z.B. Frida Kahlo, Elizabeth Taylor als Kleopatra, Michael Jackson, Marilyn Monroe, John Wayne usw.). Und das alles in einer ständig wechselnden Umgebung irgendwo zwischen der Ästhetik von Yellow Submarine und den Werken von Ralph Bakshi, dem Experten für Erwachsenen-Zeichentrickfilme.
Der Zuschauer verliert sich mit der Protagonistin in dieser Traumwelt. Dies ist die Zukunft des Entertainments, predigt ein Bill Gates optisch nicht unähnlicher Firmenboss. Halluzinogene Drogen schnüffeln, um der realen Welt zu entfliehen. Ja, die eigene Fantasie ist besser als jeder Kinofilm, aber wenn man mit Chemie nachhelfen muss, ist es dann nicht besser, man bleibt bei den heutigen Möglichkeiten von Fernsehen und (Heim)Kino? Natürlich ist es das, aber in The Congress flüchten sich die meisten Menschen dennoch in ihre eigenen Fantasiewelten. Die reale Welt ist völlig heruntergekommen und wird von einigen wenigen „Zurückgebliebenen“ am Leben erhalten. Eine zynische Dystopie, die noch einen Schritt weiter geht als Matrix und Konsorten: „Die Formel der freien Entscheidung wurde geknackt.“
Für dieses geniale Überwältigungskino beauftragen Ari Folman und sein Animations-Regisseur Yoni Goodman nicht weniger als sechs Animationsstudios, nämlich aus Berlin, Hamburg, Belgien, Luxemburg, Polen und von den Philippinen! Und das für ein nach Hollywood-Maßstäben fast lächerliches Budget von 8 Millionen €. Zurecht gewann The Congress den Europäischen Filmpreis als bester Animationsfilm 2013. Seit Juni 2014 ist der Film auf BluRay und DVD erhältlich, sowie außerdem beim Ondemand-Portal Netflix verfügbar. Ganz ohne Drogen.
Fazit: Ari Folmans The Congress ist vor allem ein überwältigender Bilderrausch, welcher die Mechanismen der Unterhaltungsindustrie ins Absurdeste weiterspinnt und karikiert. 9 von 10 Punkten.
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Robin betritt die Zeichentrick-Welt…
…und verliert sich dort immer mehr.
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Marius Joa, 30. Januar 2016. Bilder: Pandora Film.
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