Nach dem Ende der ursprünglichen Serie Twin Peaks drehte Miterfinder und Regisseur David Lynch einen Prequel-Film über die letzten Tage von Laura Palmer. Nach 31 Jahren wurde Twin Peaks: Der Film im Rahmen der Reihe „Best of Cinema“ kürzlich wieder im Kino gezeigt, erstmals in 4K.
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Twin Peaks: Der Film (Twin Peaks: Fire Walk with Me)
alternativ: Twin Peaks – Der Film: Die letzten sieben Tage im Leben der Laura Palmer
Mystery-Krimi/Psychothriller USA, Frankreich 1992. FSK: Freigegeben ab 16 Jahren. 135 Minuten. Kinostart: 20. August 1992.
Mit: Sheryl Lee, Ray Wise, Kyle MacLachlan, Michael J. Anderson, Dana Ashbrook, Phoebe Augustine, Frances Bay, Pamela Gidley, Chris Isaak, Moira Kelly, David Lynch, James Marshall, Frank Silva, Harry Dean Stanton, Al Strobel, Kiefer Sutherland, Grace Zabriskie u.a. Nach der Serie von Mark Frost und David Lynch. Drehbuch: David Lynch und Robert Engels. Regie: David Lynch.
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Das Mädchen und der Tod
1988 wird in der Kleinstadt Deer Meadow, im US-Bundesstaat Washington, die junge Prostituierte Teresa Banks (Pamela Gidleys) tot aufgefunden. Gordon Cole (David Lynch), Chef der regional zuständigen FBI-Dienststelle, beauftragt die Agenten Chester Desmond (Chris Isaak) und Sam Stanley (Kiefer Sutherland) mit dem Fall. Gegen den Widerstand des örtlichen Sheriffs beginnen sie ihre Ermittlungen. Wenig später verschwindet Agent Desmond spurlos. Im FBI-Hauptquartier in Philadelphia taucht daraufhin der seit langem vermisste Agent Phillip Jeffries (David Bowie) für kurze Zeit wieder auf. Agent Dale Cooper (Kyle MacLachlan) hat eine Vorahnung, dass es bald ein zweites Opfer wie Teresa Banks geben wird.
Ein Jahr später in Twin Peaks, nahe der Grenze zu Kanada. Laura Palmer (Sheryl Lee) ist nicht nur in der Stadt überaus beliebt, sondern auch der Stolz ihrer Eltern Leland (Ray Wise) und Sarah (Grace Zabriskie) und wurde zur Homecoming Queen an ihrer Highschool gewählt. Doch die 17jährige ist auch das Opfer von sexuellen Missbrauch, der sie in die Drogensucht und Prostitution treibt. Der schaurige BOB (Frank Silva) kommt nachts immer wieder in ihr Schlafzimmer. Lauras Doppelleben droht sie allmählich zu zerstören. Ihre beste Freundin Donna Hayward (Moira Kelly) versucht zu helfen, wird aber selbst fast in die Dunkelheit hineingezogen. Schließlich stellt Laura entsetzt fest, dass Seiten aus ihrem geheimen Tagebuch fehlen…
Twin Peaks von Autor Mark Frost (Polizeirevier Hill Street, Fantastic Four [2005]) und Autor/Regisseur David Lynch (Eraserhead, Der Elefantenmensch, Dune – Der Wüstenplanet [1984], Mulholland Drive) avancierte zurecht zur Kultserie. Diese kuriose Mischung aus Krimi mit surrealen Mystery-Elementen, Gesellschaftsstudie, Kleinstadt-Seifenoper und absurder Slapstick-Comedy hatte es vorher nicht gegeben. Nach zwei Staffeln mit insgesamt 30 Episoden wurde die Serie allerdings abgesetzt. Daraufhin nahm Lynch ohne große Beteiligung von Frost einen Kinofilm in Angriff, der vor dem für die Show zentralen Mord an Laura Palmer spielt. Unter dem Originaltitel Fire Walk with Me wurde das Prequel erstmals im Mai 1992 bei den Filmfestspielen von Cannes aufgeführt und kam im August fast zeitgleich in die amerikanischen und deutschen Kinos.
Zwar hatte ich während meiner Kindheit bzw. Jugend in den 1990ern schon von der Serie gehört und wusste auch grob worum es ging (die Aufklärung des Mordes an Laura Palmer) doch zu einer ersten Sichtung kam es erst vor sechs Jahren, auf welche natürlich der vorliegende Kinofilm folgte und auch Die Rückkehr von 2017. Den Mystery-Anteil hatte ich ehrlich gesagt erwartet und sehe Twin Peaks daher eindeutig als wichtigen Vorreiter für Akte X (1993-2002, 2016, 2018) von Chris Carter und andere Mystery-Serien. Doch die surreale Stimmung, die überbordenden Seifenoper-Plots und der Humor überraschte mich damals im positiven Sinne. Trotz aller Mystik und Düsternis sind manche Szenen und Folgen einfach unfassbar lustig. Im Vorfeld des Leinwand-Prequels erwartete das Publikum eine 1:1-Weiterführung der beliebten Serienzutaten. Das liefert Fire Walk with Me auch teilweise. Aber der Schwerpunkt liegt eindeutig auf den verstörenden, düsteren Vorgängen im Leben Laura Palmers, die als Hauptfigur im Mittelpunkt steht.
Humor gibt es eigentlich fast nur zu Beginn im Prolog, vor allem im Zusammenhang mit FBI-Direktor Gordon Cole, der seine Mitmenschen trotz Hörgerät oft nicht versteht und daher sehr laut redet bzw. nicht selten angebrüllt werden muss. Als komische Nebenrolle fungiert auch der von Harry Dean Stanton (1926-2017, bekannt aus Alien, The Green Mile und Lucky [2017]) gespielte Wohnwagenpark-Betreiber Carl Rodd. Mit dem Prolog außerhalb des titelgebenden Schauplatzes erweitern Lynch und sein Co-Autor Robert Engels (Gene Roddenberry’s Andromeda) den Fokus der Geschichte und setzen diese so in einen größeren Kontext.
Nach einer guten halben Stunde beginnt das Geschehen in Twin Peaks und somit das Märtyrium Lauras. Die Kamera von Ron Garcia, der in gleicher Funktion auch schon am Pilotfilm beteiligt war, folgt der tragischen Heldin durch ihre von wenig Licht und viel Finsternis durchzogene letzte Lebenswoche. Wie schon in der Serie wird die niederschmetternde, absolut verstörende Wahrheit über das, was Laura widerfährt, als Manifestation dunkler Mächte inszeniert. Erstaunlicherweise werden hier zudem einige Dinge, die vielleicht zuvor noch offen schienen, ziemlich eindeutig erklärt und aufgelöst. Eine ungewöhnlicher Modus Operandi für Meister Lynch, der ansonsten keinerlei Erklärungen seiner Werke liefert und teilweise selbst die Beteiligten (wie bei Mulholland Drive) im Dunkeln darüber lässt, was genau das Ganze denn nun bedeuten soll.
Ganz offensichtlich erweist sich der TP-Film als große Bühne für Sheryl Lee. Sollte die damals junge Schauspielerin zu Beginn der Serie eigentlich nur eine Leiche spielen und außerdem in einer Rürckblende auftauchen so zeigte sich Lynch von ihr begeistert und erweiterte die Rolle Laua Palmers mit Flashbacks und Visionen. Außerdem spielte Lee noch den Part von Lauras Cousine Maddy Ferguson. Im Film konnte die damals 24jährige nun richtig groß aufspielen und ihrer tragischen Figur eine eindringliche Abschiedsvorstellung (quasi den „red curtain call“) schenken. Ray Wise lieferte als Lauras innerlich gespaltener Vater Leland Palmer ebenfalls eine starke Performance ab.
Auf eigenen Wunsch erhielt Kyle MacLachlan als Agent Dale Cooper hier nur einen kleineren Part. Mit Michael J. Anderson als kleinwüchsiger Mann im Red Room, Frank Silva als BOB, Dana Ashbrook als Bobby Briggs, James Marshall als James Hurley und Grace Zabriskie sind hier ein paar wichtige Akteure ebenfalls mit dabei. Die Rolle von Donna Hayward wurde mit Moira Kelly neu besetzt, da die ursprüngliche Darstellerin Lara Flynn Boyle wegen Terminüberschneidungen absagen musste. Mit den Musikern David Bowie (1947-2016) und Chris Isaak sowie Kiefer Sutherland und Jürgen Prochnow (in einem „blink-and-you-will-miss-it“-Kurzauftritt) konnte Lynch zusätzlich prominente Akteure engagieren, welche allerdings alle nur im Prolog auftauchen. Weitere Darsteller aus dem Serien-Ensemble wie Michael Ontkean, Warren Frost, Everett McGill, Jack Nance, Kimmy Robertson, Joan Chen, Harry Goaz, Michael Horse und Russ Tamblyn hatten Szenen für den Kinofilm gedreht, welche in der Endfassung allerdings keine Verwendung fanden und erst 2014 in Twin Peaks: Die fehlenden Teile (Twin Peaks: The Missing Pieces) auf DVD/BluRay veröffentlicht wurden.
Obwohl Fire Walk with Me etwa drei Jahrzehnte auf dem Buckel hat so ist es auch heute immer noch erstaunlich, was für eigentümliche, surreale und alptraumhafte Bilderwelten Lynch und sein Team hier erschaffen haben. Die Atmosphäre steht und fällt freilich mit dem Score von Lynchs Stammkomponist Angelo Badalamenti (1937-2022), der hier neben dem ikonischen Titelthema und gängigen Themes aus der Serie weitere psychedelische Klänge schuf, welche der besonderen visuellen Ästhetik eine unverkennbare akustische hinzufügen.
Die Leinwand-Adaption war nach Erscheinen kein Erfolg und konnte weder Kritiker noch Fans der Serie begeistern. Pläne für Fortsetzungen wurden daher nicht weiterverfolgt. Mit der Zeit erarbeitete sich Fire Walk with Me allerdings seinen rechtmäßigen Platz in der Filmographie seines Regisseurs und erlante Kultstatus. Einige Figuren und Elemente fanden 25 Jahre später im Revival von 2017 Verwendung.
Twin Peaks: Der Film ist als Stream bei mehreren Anbietern verfügbar sowie außerdem als DVD und BluRay erhältlich. Am 16. November 2023 erscheint der Film erstmals in Ultra HD auf BluRay.
Fazit: Surreal-stimmungsvoller und verstörender Psycho-Trip über die letzten Tage von Laura Palmer. 9 von 10 Punkten.
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Übersicht über die ganze Twin Peaks-Saga
Twin Peaks: Staffel 1 (1990)
Twin Peaks: Staffel 2 (1990/91)
Twin Peaks: Der Film (1992)
Twin Peaks: Die fehlenden Teile (2014)
Twin Peaks: Die Rückkehr (2017)
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Marius Joa, 16. September 2023. Bilder: Studiocanal/Arthaus.
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