Ein letztes Mal lässt Regisseur Miguel Gomes seine Erzählerin Scheherazade zu Wort kommen, im Finale der portugiesischen Trilogie 1001 Nacht.
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1001 Nacht – Teil 3: Der Entzückte (As Mil e Uma Noites: Volume 3, O Encantado)
Drama/Parabel Portugal, Deutschland, Frankreich, Schweiz 2015. FSK: Freigegeben ab 12 Jahren. 125 Minuten. OmU. Kinostart: 25. August 2016.
Mit: Crista Alfaiate, Americo Silva, Carloto Cotta, Chico Chapas, Quitério, Bernardo Alves, Gonçalo Waddington u.a. Regie: Miguel Gomes. Drehbuch: Miguel Gomes, Mariana Ricardo, Telmo Churro.
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Von Verlockungen und Vogelsang
Scheherazade zweifelt daran, dem König weiterhin Geschichten erzählen zu können, die ihm gefallen, solange ihre Erzählungen so voller Schwermut sind. Sie flüchtet aus dem Palast, durchquert das Königreich auf der Suche nach Vergnüglichkeiten und Entzücken und trifft sich mit ihrem Vater, dem Großwesir, auf einem Riesenrad. So nimmt Scheherazade ihre Erzählung wieder auf: “Oh glückseliger König, vierzig Jahre nach der Nelkenrevolution gab es in der alten Barackensiedlung von Lissabon eine Gemeinschaft von Männern, die es sich zur Aufgabe machte, mit Passion und Hingabe den Vögeln das Singen beizubringen….“. Und als der neue Tag anbricht, verstummt Scheherazade.
Eine ganze Filmtrilogie innerhalb von fünf Wochen auf der großen Leinwand? Klingt völlig abwegig. Doch der deutsche Filmverleih Real Fiction brachte genau so die portugiesische Trilogie 1001 Nacht von Regisseur Miguel Gomes in die deutschen Programmkinos. Nach Teil 1: Der Ruhelose und Teil 2: Der Verzweifelte wird das narrative Tryptichon mit dem dritten Teil Der Entzückte bschlossen. Die nicht selten dokumentarische Erzählsammlung bescherte uns die unterschiedlichsten Geschichten aus dem heutigen Portugal. Tragische Schicksale, hervorgegangen aus der Wirtschaftskrise, wie die der langjährigen Arbeiter einer traditionsreichen, aber nun geschlossenen Schiffswerft oder die eigentlich hoffnungslosen Teilnehmer am “Bad der Prächtigen”. Aber auch beißende Satiren voll absurder Komik, bei welchen Politiker (“Die Männer mit einem Steifen”) durch den märchenhaften Kakao gezogen werden oder die Justiz an ihre Grenzen stößt (“Die Tränen der Richterin”).
Scheherazade und der Paddler
Bevor die letzte Erzählung der Trilogie beginnt, richtet sich der Fokus zeitweise komplett auf Scheherazade, die man erstmals seit dem ersten Teil wieder zu Gesicht bekommt. Denn die wunderschöne Frau fieht zwischenzeitlich vor ihrer Verantwortung, den Sultan mit Geschichten davon abzuhalten, sie und weitere Ehefrauen zu töten. An einem sonnigen Tag erkundet Scheherazade während ihrer eigenen kleinen Odyssee die Welt. In einer malerischen Insellandschaft trifft sie nicht nur einen Tänzer oder einen widerspenstigen Windgeist, sondern auch den sogenannten “Paddler” (Carloto Cotta), der wie ein junger Gott aussieht und als potenter Vater einer kaum unzähligen Kinderschar gilt. Natürlich versucht der blonde Womanizer auch bei Scheherazade sein Glück, mit überraschendem Ausgang. Die schöne Königsgattin zieht weiter und findet sich plötzlich in einer modernen Urlaubsidylle wieder.
Zugegebenermaßen hätte ich liebend gerne der anmutigen Crista Alfaiate (die in Teil 1 auch die Punkerin sowie in Teil 2 den Dschinn verkörperte) den ganzen Film über dabei zugesehen, wie sie durch die Gegend spaziert und kuriose Begegnungen erlebt. Besonders schön ist eine Szene, in welcher die portugiesische Scheherazade einen alten englischen Schlager schmettert, begleitet von einem zufällig anwesenden Gitarren-Hampelmann. Doch dem Ruf ihres Vaters, des Großwesirs (Americo Silvo), der sich bezüglich des Schicksals seiner Tochter zu Beginn schon Sorgen gemacht hat, folgend, kehrt die junge Frau zum Sultan und ihrer Aufgabe zurück.
Die letzte Erzählung, “Der Chor der Buchfinken”, spielt sich in den Arbeitervierteln Lissabons ab. Dort treffen sich jährlich die Vogelfänger aller Altersklassen und lassen Buchfinken im Sängerwettstreit gegeneinander antreten. Das Singen haben die Männer ihren Vögeln mit verschiedenen Methoden selbst beigebracht. Unter den Vogelfängern befindet sich auch Chico Chapas, der noch im Vorgänger als flüchtiger Mörder “Simão ohne Gedärme” über die Wiesen und Felder wanderte. Wer kein kompletter Vogelkunde-Enthusiast ist, wird sich allerdings bei dieser Episode eher langweilen. Und nicht nur, weil sie über die Hälfte des gut zweistündigen Films ausmacht. Wurden die bisherigen Stories immer von der warmen, weisen Stimme von Crista Alfaiate (als Scheherazade) auf dem Off erzählt und kommentiert, so übernehmen dies nun Texteinblendungen, die zwar die Handlung erklären, aber den Bildfluss eher behindern. Vielleicht hätte Gomes am Ende einfach die “Buchfinken”-Geschichte um wenigstens 20 Minuten kürzen sollen. Dass er am Ende keinen Bogen mehr zur Erzählerin zurückschlägt, darf durchaus als Anregung an andere Filmemacher vrstanden werden, das narrative Garn selbst weiterzuspinnen.
Am Ende hat Miguel Gomes eine eigenwillige Mischung aus authentischem Sozialdrama (ohne Betroffenheitskitsch), Satire, Dokumentation, Experimentalfilm und postmodernem Roman erschaffen, mit dem ursprünglichen Ziel, die Wirtschaftskrise seiner (damals) achtjährigen Tochter zu erklären. Allerdings darf sie die ihr gewidmete Trilogie 1001 Nacht erst ansehen, wenn sie volljährig ist.
Fazit: Im letzten Teil seiner “1001 Nacht”-Trilogie lässt Miguel Gomes seine Erzählerin Sheherazade an ihrer Aufgabe zweifeln und den Zuschauer am Sinn von gut 70 Minuten über den Gesang von Buchfinken. 7 von 10 Punkten.
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Was für ein komischer Vogel
Scheherazade und ihr Vater im Riesenrad
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Marius Joa, 31. August 2016. Bilder und Inhaltsangabe: Real Fiction Filmverleih.
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