Mit Anomalisa liefert Charlie Kaufman, einer der kreativsten Köpfe des US-Kinos, seinen neuesten Film ab. In diesem Stop-Motion-Kunstwerk erlebt ein deprimierter und gelangweilter Autor eine unerwartete Begegnung.
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Anomalisa
Animationsfilm/Drama USA 2015. FSK: Freigegeben ab 12 Jahren. 90 Minuten. Kinostart: 21. Januar 2016.
Deutsche Sprecher: Frank Röth (Michael), Carolin Ebner (Lisa), Christian Weygand (alle anderen). Regie: Charlie Kaufman und Duke Johnson. Drehbuch: Charlie Kaufman.
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Liebe in Zeiten der Totaloptimierung
Der alltägliche Trott äußert sich bei Michael Stone, dem erfolgreichen Autor eines Kundenservice-Ratgebers auf besondere Weise. Für den verheirateten Familienvater sehen alle Menschen gleich aus und haben auch alle eine gleich klingende Stimme. Selbst die eigene Ehefrau und der Sohn im Grundschulalter. Bei einer Geschäftsreise in Cincinnati, deren Anlass ein Vortrag auf einer Kundenservice-Tagung bildet, glaubt Michael plötzlich zu träumen, als er eine völlig andere Stimme hört. Diese gehört der schüchternen Lisa, die mit ihrer Kollegin Emily für die Tagung angereist ist. Michael unterhält sich prächtig mit den beiden Frauen bei einigen Drinks. Als sich der Abend dem Ende nähert, lädt er Lisa zu deren völliger Überraschung in sein Zimmer ein, wo sie sich näher kommen…
Während die Animationsfilmriesen wie Disney, Pixar, Dreamworks oder Universal jedes Jahr mehrere hoch budgetierte Filme auf den Markt werfen, muss man die wirklich interessanten Beiträge dieses vielfältigsten Genres, also vor allem ungewöhnliche Stop-Motion-Filme, teilweise mit der Lupe suchen. Neben dem australisch-israelischen Episodenfilm Der Sinn des Lebens für 9,99, dem kurios-genialen Flüchtlings-Früchte-Musical Lisa Limone & Maroc Orange sowie der etwas teureren, schaurig-schönen Neil-Gaiman-Adaption Coraline fällt einem da aktuell Anomalisa, der neue Film des begnadeten Drehbuchautoren Charlie Kaufman, der bei seinem ersten Trickfilm auch als Co-Regisseur fungierte, ins Auge. Seit seinem Filmdebüt, der surreal-genialen Identitätssatire Being John Malkovich (1999) hat der 1958 geborene Kaufman seinen Ruf als einer der letzten eigenwillig-kreativen Geschichtenerzähler des amerikanischen Kinos mit Filmen wie Adaption (2002), Eternal Sunshine Of The Spotless Mind (2004; deutscher Titel: Vergiss mein nicht) oder seinem Regiedebüt Synecdoche, New York (2008) zementiert. Umso trauriger, dass er die paar Milliönchen für Anomalisa zum Teil über Crowdfunding zusammenkratzen musste, während in Hollywood für die einfallslosesten Blödbuster 100 bis 200 Millionen Dollar verdummt werden. Aber mit wenig Geld einen tollen Stop-Motion-Film machen ist möglich, wie z.B. der Estländer Mait Laas mit seinem 3D-Musical Lisa Limone & Maroc Orange bewies.
Mit dem Animations-erfahrenen Duke Johnson als Co-Regisseur wurde die als 40minütiger Kurzfilm geplante Produktion doch zur Spielfilmlänge erweitert, mit allen Konsequenzen, die das mühsame Animieren der Puppen, die übrigens aus dem 3D-Drucker stammen, für jede Sekunde bedeuten. An der wenige Minuten dauernden Sex-Szene werkelte die Filmcrew etwa sechs Monate.
Obwhol das Genre des Trickfilms als familienfreundliche Angelegenheit angesehen wird, Anomalisa ist eindeutig an erwachsene Zuschauer gerichtet. Die Geschichte an sich wirkt inhaltlich recht einfach gestrickt, aber nicht nur der Detailreichtum der Puppen und Sets, sondern auch die Bedeutungsebenen sowie vor allem die wunderschöne, melancholische Love Story bieten mehr als ausreichendes Füllmaterial. Mit seinen Nuancen und präzisen Beobachtung ist der Film wesentlich lebendiger, authentischer und menschlicher als so viele andere Realfilme, die zwischenmenschliche Beziehungen zum Thema haben. Und ein besseres Kompliment kann man diesem einzigartigen Werk sicher nicht aussprechen.
Eine Lesart von Michaels „Wahrnehmungsstörung“ (die gemeinhin auch als Fregoli-Syndrom bekannt ist) als logische Reaktion auf den von schauriger Unpersönlichkeit durchdrungenen Lebens- und Arbeitsalltag, der fast bis zur Entmenschlichung optimiert wird, erscheint auch plausibel. Zwar ist Michael als Buchautor wohl ein Freiberufler und viel auf Reisen, was grundsätzlich ja eine gewisse Abwechslung in sein Leben bringt, die Monotonie lässt ihn aber genauso ausgebrannt zurück wie die „Telefonsklaven“ der Service-Hotlines der Großkonzerne. Anomalisa steht bei dieser völlig legitimen Betrachtungsweise in einer Reihe von so unterschiedlichsten Filmen über die „schöne neue Arbeitswelt“ wie Terry Gilliams Farce The Zero Theorem, Carmen Losmanns subtile Dokumentation Work Hard – Play Hard oder das minimalistisch-moderne, deutsche Arbeitsplatz-Drama Die Ausbildung.
Im Grunde ist das Konzept der überall gleichen Gesichter eine konsequente Fortführung einer herrlich schrägen Szene aus Being John Malkovich, in welcher der sich selbst spielende Titeldarsteller in seinen eigenen Kopf gelangt und plötzlich alle Menschen um ihn herum wie er aussehen.
Fazit: Mit viel Liebe zum Detail und ungewöhnlichen Mitteln erzählt Kreativ-Genie Charlie Kaufman in seinem aktuellen Film eine tragikomische Liebesgeschichte von schlichter, wahrhaftiger Schönheit. 9 von 10 Punkten.
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Alle Menschen sehen gleich aus
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Marius Joa, 26. Januar 2016. Bilder: Paramount.
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