Bei den diesjährigen Fimfestspielen in Cannes gewann Anora von Regisseur Sean Baker (Tangerine L.A., The Florida Project) mit der Goldenen Palme den Hauptpreis. Der Film über eine New Yorker Stripperin, die sich mit einem russischen Oligarchensohn einlässt, läuft seit gut einer Woche in den deutschen Kinos.
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Anora
Drama/Komödie USA 2024. FSK: Freigegeben ab 16 Jahren. 139 Minuten. Kinostart: 31. Oktober 2024.
Mit: Mikey Madison, Mark Eydelshteyn, Yura Borisov, Karren Karagoulian, Vache Tovmasyan, Luna Sofía Miranda, Lindsey Normington, Darya Ekamasova, Ivy Wolk u.v.a. Drehbuch und Regie: Sean Baker.
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Pretty Woman 2.0
Im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Ani (Mikey Madison) zählt zu den erfolgreichsten Stripperinnen im Club Headquarter. Weil sie Russisch spricht, wird Ani von ihrem Chef dem russischen Oligarchensohn Vanya (Mark Eydelshteyn) zugeteilt. Der junge Russe, welcher eigentlich in den USA studieren soll, findet Gefallen an ihr und bezahlt sie für Sex in seiner schicken Villa. Nachdem Yanya Ani für eine ganze Woche gebucht hat kommen sich die beiden näher. Wenig später gibt Ani ihren Job im Headquarter auf und zieht dauerhaft bei Vanya ein. Bei einem Trip mit Freunden nach Las Vegas heiratet das Paar spontan und scheint überglücklich. Doch als Vanyas Familie in Russland von der Eheschließung erfährt, engagiert dessen Mutter Galina (Darya Ekamasova) ihre Handlanger vor Ort – die beiden Armenier Toros (Karren Karagoulian) und Garnick (Vache Tovmasyan) sowie den Russen Igor (Yura Borisov) – um die Ehe annullieren zu lassen und den Sohnemann zur Vernunft zu bringen.
Sean Baker (geboren 1971) stellt meist Menschen vom Rande der Gesellschaft in den Mittelpunkt seiner Filme, wie zwei Transgender-Prostituierte in Tangerine L.A. (2015) oder eine arbeitslose, alleinerziehende Mutter und ihre kleine Tochter in The Florida Project (2017). Für seine nunmehr achte Regie-Arbeit erhielt der amerikanische im Mai dieses Jahres die Goldene Palme bei den Filmfestspielen von Cannes. Anora erzählt von der „Romanze“ eines ungleichen Paares, der titelgebenden Stripperin und einem verwöhnten Spross einer Oligarchenfamilie. Quasi eine Pretty Woman– oder Aschenputtel-Variante im 21. Jahrhundert.
Inspiriert wurde Baker, der auch das Drehbuch schrieb und gemeinsam mit seiner Ehefrau Samantha Quan produzierte, durch einen Freund, der von einer jungen Amerikanerin russischer Abstammung erzählte, die entführt worden war. Für die zentrale Hauptrolle wurde Mikey Madison (Better Things, Scream [2022]) verpflichtet, nachdem Baker auf sie in Quentin Tarantinos Once Upon A Time in Hollywood (2019), indem sie ein Mitglied der Manson-Family verkörperte, aufmerksam geworden war. Gedreht wurde Anfang 2023 an 37 Tagen in New York und Las Vegas. Als Schauplatz für Vanyas Haus mietete die Crew eine echte ehemalige Oligarchenvilla. Im Gegensatz zu manchen von Bakers früheren Werken wie Tangerine wurde Anora nicht mit Smartphone sondern mit herkömmlichen Kameras auf 35mm gefilmt.
Egal ob „illegale“ Immigrant*innen (Take Out), Pornodarsteller*innen (Starlet, Red Rocket) und andere Sexarbeiter*innen (Tangerine L.A., Anora) sowie Menschen in ärmlichen Verhältnissen (The Florida Project), Baker nimmt seine, sich am Rande der Gesellschaft bewegenden, ausgegrenzten Figuren immer ernst und nimmt in seiner Darstellung ihrer Lebenswirklichkeiten eine neutrale, positive Position ein. Die Protagonistin von Anora lässt sich den Spaß am Leben nicht nehmen, auch wenn der Job als Stripperin kein Zuckerschlecken bedeutet. Als sie durch Vanya die Möglichkeit erhält, aus ihrem Alltag in eine glamouröse Welt voller Luxus und scheinbar endloser Parties zu fliehen, ergreift Ani diese beim Schopfe. Doch dieses an PrettyWoman und andere Aschenputtel-Varianten angelehne Märchen vom armen Mädchen, welches vom superreichen „Prinzen“ gerettet wird, geht schneller zu Ende als erhofft.
Bis zum Eindringen der russisch-armenischen Handlanger in das gemeinsame Leben von Ani und Vanyas präsentiert sich Anora als rauschhaft-hypnotischer Party-und Luxus-Reigen. Danach schlägt das Pendel in Richtung turbulenter, aber irgendwie auch realistischer Dramedy um. Denn Toros und seine unfreiwilligen Mitstreiter versuchen auf Anweisung der gestrengen Mutter Vanyas die Ehe des Sohnes mit der Stripperin zu annullieren. Die daraus entstehende Odyssee quer durch New York erinnerte mich sehr an die Streiteren innerhalb der Familie des armenischen Taxifahrers in Tangerine L.A., vermutlich auch deswegen weil dieser genau wie der erwähnte „Ausputzer“ Toros von Karren Karagoulian gespielt werden. Neben einer starken Performance von Hauptdarstellerin Mikey Madison hat mich vor allem die Performance von Yura Borisov (Abteil Nr. 6) als anfangs schweigsamer Igor beeindruckt.
Anora ist allein deswegen ein viel besserer Film als Pretty Woman weil Sean Baker und Co hier kein süßliches Happy-End servieren, sondern ihrer Linie treu bleiben. Für die titelgebende „Neo-Cinderella“ bleibt am Ende die niederschmetternde Erkenntnis über den ernüchternden Verlauf ihrer Romanze mit dem jungen Russen.
Fazit: Authentisch eingefangene und intensive Dramedy über die turbulente Beziehung zwischen der titelgebenden Stripperin und dem unsteten Oligarchen-Sohn. 8 von 10 Punkten.
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Marius Joa, 8. November 2024. Bilder: Universal.
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