Zwei Wochen nach Kenneth Branaghs mäßiger Neuverfilmung von Tod auf dem Nil ist ein weiterer Film des britischen Filmemachers in den deutschen Kinos gestartet. In Belfast verarbeitet Branagh seine Kindheitserinnerungen zur Zeit des Nordirlandkonfliktes.
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Belfast
Drama/Komödie Nordirland, USA 2021. FSK: Freigegeben ab 12 Jahren. 98 Minuten. Kinostart: 24. Februar 2022.
Mit: Jude Hill, Caitríona Balfe, Jamie Dornan, Judi Dench, Ciarán Hinds, Lewis McAskie, Lara McDonnell, Colin Morgan, Olive Tennant, Gerard Horan, Josie Walker u.a. Drehbuch und Regie: Kenneth Branagh.
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Buddy Boy
1969. Buddy (Jude Hill) ist neun Jahre alt und lebt mit Mutter (Caitríona Balfe), Vater (Jamie Dornan) und seinem älteren Bruder Will (Lewis McAskie) in einem Viertel der nordirischen Hauptstadt Belfasts, in welchem Katholiken Seite an Seite mit Protestanten wohnen. Gemeinsam mit anderen Kindern spielt Buddy auf der Straße Fußball, kämpft gegen imaginäre Drachen und hat ein Auge auf seine fleißige Mitschülern Catherine (Olive Tennant) geworfen. Doch seine Kindheit wird von den Unruhen des Nordirlandkonfliktes überschattet. Buddys Vater, der nur alle zwei Wochenenden nach Hause kommt, weil er in England arbeitet, kann seine Familie nicht ständig beschützen und erwägt so einen Umzug ins Ausland, wohlmöglich ins weit entfernte Australien. Für Buddy unvorstellbar. Denn müsste er dann nicht nur seine Freunde, sondern auch die geliebten Großeltern Granny (Judi Dench) und Pop (Ciarán Hinds) zurücklassen…
Kenneth Branagh wurde am 10. Dezember 1960 in Belfast geboren. Als er neun Jahre alt war zog die Familie ins englische Reading, um den den Unruhen zwischen Katholiken und Protestanten zu entkommen. Bereits während seiner Schulzeit in England agierte der junge Kenneth in mehreren Theateraufführungen. Im Anschluss an die schulische Ausbildung studierte Branagh an der renommierten Royal Academy of Dramatic Art (RADA) in London. Während seiner Studien performte er 1980 einen Monolog aus Hamlet für Königin Elisabeth II. In der Folge avancierte Branagh zum gefragten Schauspieler im Theater und konnte auch erste Kinorollen ergattern. Einen Namen hat sich der heute 61jährige als Regisseur von und Darsteller in herausragenden Film-Adaptionen der Werke von William Shakespeare, wie Henry V (1989), Viel Lärm um Nichts (1993), Othello (1995) und vor allem die ungekürzte Verfilmung von Hamlet (1996) gemacht. Außerdem inszenierte er unter anderem eine Neuadaption von Frankenstein (1994), in welchem er einmal mehr die Hauptrolle spielte, und 1 Mord für 2 (2007), ein Remake von Mord mit kleinen Fehlern (1972). Darüber hinaus war Branagh auch als Zauberer Gilderoy Lockhart in Harry Potter und die Kammer des Schreckens (2002), als Laurence Olivier in My Week with Marilyn (2011) und als Kommissar Wallander in der britischen Version der auf Büchern von Henning Mankell basierenden Krimiserie Wallander (2008-2015) zu sehen.
In den letzten Jahren gerieten seine Regie-Arbeiten und Performances aber recht durchwachsen, siehe der MCU-Blockbuster Thor (2011), Jack Ryan: Shadow Recruit (2014) sowie Mord im Orientexpress (2017) und Tod auf dem Nil (2020/2022), Neuverfilmungen der bekannten Kriminalromane von Agatha Christie, in welchen Branagh eine überzogene Version des berühmten belgischen Detektivs Hercule Poirot verkörperte. Letztgenannter Film kam nach zahlreichen pandemie-bedingten Verschiebungen erst vor wenigen Wochen in die Kinos. Doch nun läuft auch ein in jeder Hinsicht ganz anderes Werk des in Nordirland geborenen britischen Filmemachers hierzulande in den Lichtspielhäusern. In Belfast verarbeitet Branagh seine Kindheit in Nordirland während den als “Troubles” bekannten aufkommenden Unruhen zwischen den beiden Konfessionen. Und er tut dies mit einer unfassbaren inhaltlichen und inszenatorischen Präzision.
In der Comedyserie Derry Girls, welche voraussichtlich dieses Jahr mit der dritten Staffel enden wird, arbeitet die nordirische Autorin Lisa McGee ihre Jugend in Derry/Londonderry während der “Troubles” in den 1990ern in fiktionaler und humoristischer Weise auf. Etwas ernster geht es bei Branaghs Geschichte zu, die ein Vierteljahrhundert früher spielt. Der Film beginnt mit farbenfrohen Impressionen des heutigen Belfast, wechselt dann für die Vergangenheit zu Schwarzweiß-Bildern. Wir sehen eine geschäftige Straße, von Erwachsenen und spielenden Kindern frequentiert. Doch nur wenige Augenblicke später bricht das Chaos der Unruhen los. Protagonist Buddy wird, eben noch unschuldig spielend, von den Unruhestiftern und ihrer Gewalt überrascht. Seine Mutter kann ihn gerade noch rechtzeitig ins Haus retten, bevor etwas schlimmeres passiert. Dennoch erlebt der neunjährige eine recht normale Kindheit. Er schwärmt für Fußball und die Musterschülerin in seiner Klasse. Theater und Kino sind außerdem wichtige Zufluchtsorte, die später im Mittelpunkt des “erwachsenen Buddy” stehen sollen. Buddys Vater arbeitet als Handwerker in England, wo es genügend Arbeit gibt, und ist daher nur jedes zweite Wochenende zuhause. Die Sorge um die Sicherheit der Familie und Auswandern als Konsequenz sind immer wieder Thema.
In einem Balanceakt von filmischer Verarbeitung und authentischer Nachbildung wird die Geschichte konsequent aus der Sicht eines neunjährigen Jungen erzählt, der zwar nicht aktiv in jeder Szene beteiligt ist, aber als Zuhörer am Rand doch alles wichtige mitbekommt und sich seinen eigenen Reim daraus macht. Die Unruhen ausgenommen ist das hier gezeigte Viertel die perfekte Umgebung. Jeder kennt jeden und man hilft sich gegenseitig wo man kann. Die Kamera von Haris Zambaloukos fängt das Geschehen gekonnt aus der Perspektive eines Kindes ein, ohne jedoch das Gesamtbild aus den Augen zu verlieren. Wie fragil das Leben im Belfast des Zeit sein konnte zeigen die Nuancen zwischen denen die Handlung sich hier bewegt. Da wird Buddy von der älteren Moira (Lara McDonell) zu Mutproben angestiftet, die mit “leichtem” Ladendiebstahl beginnen und bis zur Teilnahme an Plünderungen und Krawallen reichen. Die sichtliche Überforderung mit der unfassbaren Situation nur eine der unterschiedlichen Gefühlsregungen, die der neunjährige Schauspieldebütant Jude Hill mit Bravour meistert.
Auch fernab der “Troubles” ist das Leben für Buddy und seine Lieben nicht immer leicht. Die Familie muss über einen langen Zeitraum Steuerschulden abbezahlen, den Großvater plagt ein Lungenleiden, die Zukunft ist ungewiss. Selbst in schwierigen Zeiten (sicherlich ein irischer Charakterzug) darf man den Humor nicht verlieren, egal ob er sich aus teils absurder Situationskomik oder dem Dialogwitz, nicht selten zwischen Buddy und seinem Opa, speist. Ciarán Hinds (Rom, Game of Thrones) spielt diesen Großvater, der seinem Enkel augenzwinkernde Tipps gibt, mit großer Warmherzigkeit. Auch ansonsten versammelt Branagh hier die meisten der namhaftesten Schauspieler Nordirlands, mit Caitríona Balfe (Outlander) als Buddys besorgte Mutter, Jamie Dornan (The Fall – Tod in Belfast) als Buddys fürsorglicher Vater, Colin Morgan (Merlin, The Fall – Tod in Belfast) als Unruhestifter Billy Clanton und Dame Judi Dench als Buddys lebenslustige Oma. Die Chemie unter den Darstellern stimmt einfach und Jude Hill gelingt es, inmitten dieser großen Akteure zu glänzen.
Ich lehne mich mal weit aus dem Fenster und behaupte an dieser Stelle, dass Kenneth Branagh mit Belfast nicht nur einen gleichzeitig verklärten und authentischen Blick zurück auf seine Kindheit wirft, sondern auch seinen besten Film seit Jahrzehnten abliefert. Als nächstes wird der 2012 von der Queen zum Ritter geschlagene Künstler übrigens als britischer Premierminister Boris Johnson in der Miniserie The Sceptred Isle, über die Frühzeit der Corona-Pandemie in Großbritannien, zu sehen sein.
Fazit: Wundervoller, autobiographisch geprägter Film von Kenneth Branagh über Familie, Heimat und eine relativ normale Kindheit inmitten des Nordirlandkonfliktes mit einem sarken Schauspieler-Ensemble um den strahlenden Newcomer Jude Hill. 9 von 10 Punkten.
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Mutter ist wegen der Unruhen besorgt
Das Kino als Zufluchtsort
Buddy und seine Großeltern
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Marius Joa, 27. Februar 2022. Bilder: Universal.
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