Blutsauger (2021)

Was hat Das Kapital von Karl Marx mit Vampiren zu tun? Das erforscht Regisseur Julian Radlmaier in seinem neuen Film Blutsauger, der bereits auf der Berlinale 2021 Premiere feierte.


Blutsauger
Satire Deutschland 2021. FSK: Freigegeben ab 12 Jahren. 128 Minuten. Kinostart: 12. Mai 2022.
Mit: Aleksandre Koberidze, Lilith Stangenberg, Alexander Herbst, Corinna Harfouch, Andreas Döhler, Daniel Hoesl, Kyung-Taek Lie, Darja Lewin u.a. Drehbuch und Regie: Julian Radlmaier.

Von Vampiren und Arbeitern

August 1928. Der sowjetische Fabrikarbeiter Ljowuschka (Aleksandre Koberidze) wird für die Rolle des Trotzki in Sergei Eisensteins Film Oktober gecastet. Doch der Traum von einer Schauspielkarriere platzt als der echte Trotzki bei Stalin in Ungnade fällt und daraufhin aus dem Film herausgeschnitten wird. Ljowuschka flieht aus seiner Heimat und will sich nach Hollywood durchschlagen, um seinen Traumberuf ausüben zu können. Erst einmal landet er, getarnt als verfolgter Baron, in einem beschaulichen Ostseebad. Dort trifft Ljowuschka auf die junge Fabrikbesitzerin Octavia Flambow-Jansen (Lilith Stangenberg) und ihren etwas trotteligen Diener Jakob (Alexander Herbst). Die wohlhabende, exzentrische Erbin durchschaut den falschen Baron schnell. Dennoch bahnt sich zwischen den beiden eine Romanze an, die allerdings dem literarisch ambitionierten Jakob gar nicht passt. Schließlich ist er selbst schon länger in seine Chefin verliebt. Für Unruhe sorgen Vampire, die in der Gegen ihr Unwesen treiben. Octavia gehört bedauerlicherweise selbst zu den Blutsaugern…

In Band 1, Kapitel 8 seines prägenden Werkes Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie vergleicht Karl Marx (1818-1883) den Kapitalisten mit einem Vampir welcher dem Arbeiter die Lebenszeit aussaugt. Bei einer gemeinsamen Lesung des Textes mit Freunden kam dem deutsch-französischen Filmemacher Julian Radlmaier (geboren 1984 in Nürnberg) die Idee, Marx wörtlich zu nehmen. In seiner vierten Regie-Arbeit Blutsauger lässt er vampirische Neureiche auf die Arbeiterschaft los. Das Endergebnis ist aber kein ökonomisch unterfütterter Horrorstreifen geworden, sondern eine nicht leicht goutierbare Parabel über die Klassengesellschaft im Kapitalismus, bei welcher Radlmauer, der für sein unverfilmtes Skript 2019 den Deutschen Drehbuchpreis gewonnen hatte, diverse Zutaten zu einer eigenwilligen Pastiche vermischt.

In der hiesigen Fabrik, im Besitz von Octavia und dem Bürgermeister Dr. Humburg (Andreas Döhler), werden Salben hergestellt. Diese sind für die dort in der Produktion tätigen, einfachen Arbeiter zu teuer. Deswegen kaufen sie zähneknirschend bei einem Asiaten eine billigere Salbe, welche dieser aus Algen herstellt. Hier und da schleichen sich auch ein paar Anachronismen ein: eine Getränkedose eines bekannten Herstellers, ein modernes Motorrad, Pappbecher sowie Windsurfer und in der Ferne sichtbare heutige Kreuzfahrtschiffe. Diese unterstreichen die „Zeitlosigkeit“ der Geschichte, die gleichsam wie ein zwischen Leben und Tod existierender Vampir, weder ganz in der Vergangenheit noch in der Gegenwart verortet wird.

Blutsauger zeigt reiche Menschen, die kaum einen Gedanken an richtige Arbeit verschwenden müssen, und deren Leben (fast) ausschließlich aus Müßiggang besteht. Keine klassischen Vampire im eigentlichen Sinn, aber dennoch saugen sie ihre Angestellten im wörtlichen und übertragenen Sinne aus. Die alles besitzende Klasse ist strikt von der arbeitenden Klasse getrennt. Ljowuschka und Jakobs Versuche, die Kluft zwischen beiden Klassen zu überwinden und sozial aufzusteigen, sind zum Scheitern verurteilt, weil sie für ihre geliebte Octavia schlussendlich nur den Vorzeige-Proletarier und den „persönlichen Assistenten“ darstellen. Und wenn die „chinesischen Flöhe“ als vermeintlicher Grund für die Vampirplage kolportiert werden dann fühlt man sich irgendwie an einen bekannten Virus und den damit verbundenen selektiven Rassismus erinnert.

Radlmaier macht es den Zuschauern nicht unbedingt einfach. Sein Film erweist sich zwar als durchaus amüsant aber gleichzeitig auch als sperrig. Als hätten die Filmemacher ein bisher unbekanntes Stück von Bertolt Brecht entdeckt und dieses nicht für die Bühne, sondern die große Leinwand adaptiert. Entsprechende literarische Vorkenntnisse sind dem Genuss des idiosynkratischen Werkes definitiv nicht abträglich. Niemand sollte hier ein munteres Gagfeuerwerk oder eine historisch authentische Gesellschaftsstudie erwarten.

Angenehm unaufgeregt und dennoch wirkungsvoll präsentiert sich das Darsteller-Ensemble. Lilith Stangenberg (Wild, Orphea) spielt die gelangweilte, vor sich hin sinnierende Firmenerbin Octavia mit passend monotoner Stimmlage, die zu den herrlich gestelzten Dialogen wunderbar passt. Corinna Harfouch (u.a. Der Untergang, Lara) ist als Octavias herablassende, reaktionäre Tante Erkentrud zu sehen. Ansonsten setzen Radlmair und sein Team auf eher unbekannte Schauspieler oder Künstler aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis. Alexander Herbst, eigentlich Grundschullehrer und Punk-Schlagzeuger, gibt hier als Diener Jakob sein überaus gelungenes Schauspieldebüt. Die Rolle des Dandy Bonin scheint Daniel Hoesl, der auch als Regisseur arbeitet, wie auf den Leib geschrieben. Hauptdarsteller Aleksandre Koberidze stammt aus Georgien und ist ein Weggefährte Radlmaiers seit dessen gemeinsamer Studienzeit bei der Deutschen Film-und Fernsehakademie (DFFB). Als stoischer Protagonist Ljowuschka mit turbulenter Biographie bildet er das Herzstück des Films.

Fazit: Sperrige, idiosynkratische, aber durchaus amüsante und stark gespielte Klassen-Satire, die an Werke von Bertolt Brecht erinnert. 7 von 10 Punkten.


Octavia und ihr Diener Jakob
 

Die feine Gesellschaft

Vampire gehen um

 


Marius Joa, 26. Mai 2022. Bilder: Grandfilm.

 

 


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