Boyhood

Kunst imitiert Leben. Das wusste wohl schon der alte Aristoteles. Die perfekte filmische Entsprechung zu dieser Erkenntnis liefert der vielseitige Regisseur Richard Linklater (Before-Trilogie) mit seinem 12 Jahre-Projekt Boyhood. Der Film begleitet einen Jungen, der vom Grundschüler zum Erwachsenen heranwächst.

 

9-10Boyhood
Drama USA 2014. FSK: Freigegeben ab 12 Jahren. 165 Minuten. Kinostart: 5. Juni 2014. Mit: Ellar Coltrane, Lorelei Linklater, Patricia Arquette, Ethan Hawke u.v.a. Drehbuch und Regie: Richard Linklater.

 Boyhood_Poster

 

Der Zauber der Zeit

Der Name Richard Linklater steht für unterschiedlichste Filme. Mit den “Milieustudien” Slacker (1991) und Dazed and Confused (1993) begann der 1960 geborene Texaner seine Karriere. Mit Waking Life (einem filmischen Exkurs über Träume, Bewusstsein, Wahrnehmung) und A Scanner Darkly (2006), der Adaption des Drogen-Romans von Philip K. Dick, inszenierte Linklater auch zwei Animationsfilme, wobei die Szenen erst mit realen Schauspielerin gedreht und anschließend in aufwändiger Weise animiert wurden. Bereits ein Jahr nachdem der Regisseur und Drehbuchautor seine Trilogie der Begegnungen (Before Sunrise, Before Sunset und Before Midnight) (wahrscheinlich) abgeschlossen hat, veröffentlichte Linklater Anfang 2014 sein vielleicht “größtes” Werk.

Boyhood_Olivia Olivia kämpft für Kinder und Karriere

Der Inhalt von Boyhood ist im Grunde ganz einfach. Erzählt wird das Heranwachsen eines Jungen vom Grundschulalter bis zum Beenden der High School mit 18 Jahren. Mason (Eillar Coltrane) ist sieben Jahre alt, hat eine nervige ältere Schwester (Lorelei Linklater), mit der er bei seiner vielbeschäftigten Mutter Olivia (Patricia Arquette) irgendwo in Texas lebt. Die Eltern sind geschieden. Ihren Vater, Mason Senior (Ethan Hawke), bekommen die Kinder anfangs nur selten zu Gesicht…

12 Jahre lang, vom Sommer 2002 bis 2013, versammelte Regisseur Linklater Darsteller und Crew um jährlich drei bis vier Tage an seinem großen “Untitiled 12 Year Project” zu drehen. Für die Hauptrolle engagiert man den damals 7jährigen Ellar Coltrane (Fast Food Nation). Masons Schwester wird von Lorelei Linklater, der Tochter des Filmemachers, gespielt. So wird der Zuschauer Zeuge wie die beiden Kinder und ihre Schauspieler nach und nach zu jungen Erwachsenen heranreifen. Aber auch die ungleich bekannteren Patricia Arquette (Ed Wood, Medium) und Ethan Hawke (Before-Trilogie, Gattaca) werden älter und unterliegen optischer Veränderungen.

Glücklicherweise macht Boyhood zwei Dinge völlig richtig. Auf eine klassische (festgefahrene) Dramaturgie wird verzichtet, was die Geschichte wundervoll organisch und authentisch wirken lässt. Und es gibt auch keine von Coming of Age-Klischees inspirierte Liste (erste Liebes, erstes Mal, erste Party usw.), welche dann einfach abgehakt wird. Zumeist besteht das Geschehen aus Alltäglichem, vergnüglichen Wochenendausflügen mit dem Vater oder auch mal gemütliches Beisammensein. Jahreszahlen werden nicht eingeblendet, die zeitliche Verortung erfolgt über popkulturelle und politische Bezüge. Mason macht als Videospielfreak die verschiedenen Entwicklungsstufen der Spielekonsolen durch, während sich die oft zickige Samantha mehr mit Musik von Britney Spears bis Lady Gaga befasst. Herrlich ist eine Szene, in welcher die beiden Kinder mit ihrem Vater Wahlplakate für Obama in den Vorgärten aufstellen und das im Cowboy-Staat Texas!

Einschneidende Erlebnisse werden kaum gezeigt. Boyhood porträtiert das glückliche, wenn auch nicht immer einfache Leben einer Familie mit alleinerziehender Mutter, die sich ständig weiterbildet, bis sie ihr Ziel erreicht hat und endlich als Dozentin arbeiten kann, was natürlich auch dazu führt, dass die kleine Familie öfter umziehen muss. Mit ihren Männern hat Olivia selten Glück, meist gerät sie an unberechenbare Alkoholiker. Doch am Ende sind die Kinder aus dem Gröbsten heraus und wehmütig muss Olivia mit ansehen, dass ihr nun erwachsener Sohn auszieht, während sie allein zurückbleibt.

Der Film zeigt ein unbeschwertes Leben, nicht immer ohne Schwierigkeiten, aber mit positiver Grundstimmung. Und mit dieser verlassen wir nach 165 Minuten Mason Junior und erinnern uns, dass er als kleiner Steppke seinen Vater fragt, ob es denn noch Magie auf dieser Welt gäbe. Der Zauber von Boyhood wirkt jedenfalls nach, denn wir möchten Masons Leben noch weiter verfolgen. Wenn das kein Kompliment an das ganze Werk ist.

 

Fazit: Wunderschönes, authentisches Filmepos über ein junges Leben im Zeitraffer. 9 von 10 Punkten.

Boyhood_Jahr 1
Mason im Jahre 2002 mit Schwester Samantha und Dad…
Boyhood_2013
…und 2013 als 18jähriger.
Marius Joa, 28. Juni 2014. Bilder: Universal.

 


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