Was wäre wenn es unzählige Fabelwesen wirklich gäbe? Wie würden die Menschen mit den sogenannten Kryptiden umgehen? Das und mehr erforscht Dash Shaw mit seinem im besten Sinne eigentümlichen Animationsfilm Cryptozoo.
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Cryptozoo
Fantasy/Animationsfilm USA 2021. 95 Minuten.
Sprecher: Lake Bell (Lauren), Angeliki Papoulia (Phoebe), Thomas Jay Ryan (Nicholas), Peter Stormare (Gustav), Grace Zabriski (Joan), Emily Davis (Pliny), Louisa Krause (Amber) u.a. Drehbuch und Regie: Dash Shaw.
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Im Reich der Fabelwesen
Tierärztin Lauren (Stimme im Original: Lake Bell) hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, sogenannte Krytide – besondere, magische und oft im Verborgenen lebende Kreautren – zu finden und zu retten. In einem großen Themenpark, dem Cryptozoo, sollen diese Wesen vor der Außenwelt geschützt und gleichzeitig den Besuchern präsentiert werden. Doch bevor der Park eröffnet werden sollte will Lauren mit der Hilfe ihrer Mentorin Joan (Grace Zabriskie) und der neuen Assistentin Phoebe (Angeliki Papoulia) endlich den Baku finden. Das Fabelwesen aus der japanischen Mythologie ernährt sich von Träumen und half Lauren in ihrer Kindheit schreckliche Alpträume loszuwerden. Aber nicht nur Lauren und ihre Getreuen sind dem Baku auf den Fersen, auch der für das Militär arbeitende Söldner Nicholas (Thomas Jay Ryan) hat es auf das Wesen abgesehen. Die US-Streitkräfte möchten die Kryptide in ihren Besitz bringen, um diese als Waffen einzusetzen…
Lauren, Phoebe und Joan
Schon oft habe ich moniert, wie schwer es wirklich besondere Zeichentrick- und Animationsfilme (egal in welcher Machrt) gegen die Übermacht von Disney, Pixar, Dreamworks und Co haben. Diese kleineren, aber umso schöneren Produktionen erhalten weniger Möglichkeiten, ein Publikum zu finden, wobei sich die Situation durch den Ausbau des Streamingmarktes stark verbessert hat. Cryptozoo, der zweite Film von Comicautor, Zeichner und Filmemacher Dash Shaw (My Entire High School Sinking Into The Sea, 2016), feierte Ende Januar 2021 seine Premiere auf dem diesjährigen Sundance Festival, wo das Werk den “Next Innovator Award” gewann, und lief unter anderem auch auf der Berlinale. In Deutschland hat sich der auf Filmkunst und Klassiker spezialisierte Streamingdienst MUBI die Rechte an Shaws Werk gesichert. Einer von mehreren guten Gründen, ein Probeabo abzuschließen.
Shaw und das von seiner Ehefrau Jane Samborski angeführte Animationsteam arbeiteten über einen Zeitraum von fünf Jahren an Cryptozoo und verliehen dem Film einen völlig eigenwilligen visuellen Stil. Am ehesten erinnert mich dieser an die kultigen Cut-Out-Animationen von Terry Gilliam aus den Serien und Filmen der Monty Python-Truppe. Die Animationen verweigern sich allerdings gängigen Konventionen des Animationsfilms und mischen verschiedene Stilrichtungen. Das Gesicht der Protagonistin erinnert an die Frauenfiguren der Präraffaeliten. So wie die Geschichte geheimnisvolle Wesen aus unterschiedlichen Kulturkreisen vereint so eklektisch präsentieren sich auch die einzelnen Zeichnungen. Das ganze Werk sprüht so vor visuellen Einfällen und diversesten Animationstechniken und -stilen, wie man es selbst als einschlägig erfahrener Zuschauer selten zu sehen bekommt. Eine psychedelische Pastiche, als hätte man Bilder aus Kunstbänden herausgeschnitten und zum Leben erweckt. Der berauschende Effekt wird noch durch die magisch-eigentümlichen Szenenübergänge verstärkt. Für die auditive Ebene versammelt Shaw einen teils namhaften Voicecast, angeführt von Lake Bell (Surface – Unheimliche Tiefe, Wenn Liebe so einfach wäre) und Angeliki Papoulia (Dogtooth, The Lobster). Laurens Mentorin wird von der aus Twin Peaks bekannten Grace Zabriskie gesprochen, die Stimme des Fauns Gustav stammt von Peter Stormare (American Gods). In kleineren Rollen sind auch Michael Cera (Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt) und Zoe Kazan (Ruby Sparks) zu hören.
Rein inhaltlich mag Cryptozoo eher einfach strukturiert sein, aber Autor und Regisseur Shaw liefert hier keine naive Phantasie. Vielmehr lässt sich die Story als idealistische Öko-Fabel interpretieren. Zwei Wege im Umgang mit den Kryptiden (der Natur) stehen hier einander gegenüber: der dominant-zerstörerische männliche (verkörpert durch das Militär) und der beschützend-konstruktive weibliche (in Person von Lauren und ihren fast ausschließlich weiblichen Mistreitern). Zeitlich verortet wird die Handlung wohl in den späten 1960ern als die Hippie-Bewegung von einer besseren, idyllischen Welt träumte. Auch Protagonistin Lauren hat eine Vision, vom Paradis für alle Wesen unter diesem Himmel. Doch hehre Absichten und hoher persönlicher Einsatz bis zur Selbstaufgabe können auch zum Scheitern führen. Ist es wirklich nur zum Besten der Kryptide wenn diese in einem Zoo “ausgestellt” werden? Sind manche der Kreaturen aufgrund ihrer Gefahren für die Menschen nicht in ihrer natürlichen Umgebung aufgehoben? Am Ende ist Shaws Werk kein naiver Trickfilm für Kinder, sondern in der harten Realität angekommen.
Cryptozoo ist seit dem 22. Oktober 2021 exklusiv beim Arthouse-Streamingdienst MUBI im englischen Original mit zuschaltbaren Untertiteln (Deutsch, Englisch, Türkisch) verfügbar. Im Anschluss an den Hauptfilm gibt es als Bonus ein gut 15minütiges Interview mit Regisseur Dash Shaw und Sprecherin Lake Bell.
Fazit: Ein engagiertes Fantasy-Abenteuer inklusive Plädoyer für Toleranz und nachhaltigen Umgang mit der Natur als kurios animierter, surreal-psychedelischer Bilderrausch. 8 von 10 Punkten.
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Die gefangene Vogelfrau
Der Zoo
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Marius Joa, 4. November 2021. Bilder: The Match Factory/MUBI.
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