Gott gibt es wirklich. Er lebt in Brüssel. Und ist wahrlich kein liebender Vater…
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Das brandneue Testament (Le tout nouveau Testament)
Tragikomödie/Satire Belgien/Frankreich/Luxemburg 2015. FSK: Freigegeben ab 12 Jahren. 113 Minuten. Kinostart: 3. Dezember 2015.
Mit: Pili Groyne, Benoît Poelvoorde, Yolande Moreau, Marco Lorenzini, Laura Verlinden, François Damiens, Serge Lariviére, Catherine Deneuve, Romain Gelin u.v.a. Regie: Jaco Van Dormael. Drehbuch: Jaco Van Dormael und Thomas Gunzig.
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Leben wie Gott in Brüssel
Vor über 35 Jahren sorgte die britische Komiker-Truppe „Monty Python“ mit ihrer respektlosen, aber urkomischen Bibelfilm-Satire Das Leben des Brian (1979) für viel Wirbel. In manchen Ländern war der Film lange Zeit verboten. In eine ähnliche Kerbe schlägt Regisseur Jaco Van Dormael mit seinem Brandneuen Testament. Dessen Erkenntnis: Gott liebt seine Schäfchen nicht, er quält sie lieber.
Der Allmächtige am PC
Mit seiner Frau (Yolande Moreau), die nie ein Wort sagt und stattdessen lieber stickt oder ihre Baseballkarten zählt, lebt Gott (Benoît Poelvoorde) in einer abgeschottenen Wohnung irgendwo in Brüssel. Seine Lieblingsbeschäftigung: das Leben der Menschen durch neue unsinnige Gesetze (z.B. das Klingeln des Telefons, wenn man sich gerade in die Badewanne gesetzt hat oder dass ein Marmeladenbrot immer auf die Marmeladenseite fällt) zur Hölle zu machen bzw. die Sterblichen durch (Natur-)Katastrophen zu dezimieren. Irgendwann wird es seiner zehnjährigen Tochter Ea (Pili Groyne), die seit ihrer Geburt nie die göttliche Wohnung verlassen durfte, zu bunt. Sie schleicht sich in Gottes Büro, hackt seinen Computer und verschickt an alle Menschen auf der Erde Kurznachrichten mit deren Todesdaten. Schließlich macht sich das Mädchen auf in die Welt um sechs weitere Apostel zu finden. Denn zwölf sind zwar gut, aber achtzehn sind besser, sagt auch Eas älterer Bruder JC (David Murgia), der den Unmut seines Vaters herausbeschworen hat, weil er sich einfach an ein Gestell nageln ließ.
Während Ea gemeinsam mit dem Obdachlosen Victor (Marco Lorenzini), der trotz Lese- und Rechtschreibschwäche als ihr „Evangelist“ ein „brandneues Testament“ schreibt, ihre Apostel unter den Einsamen und Besonderen sucht, entdeckt Gott, was seine Tochter getan und ausgelöst hat. Denn der #DeathLeak hat bei den Menschen ein Umdenken bewirkt. Fortan verschwenden sie ihre Leben nicht mehr mit Krieg, Geld und endloser Arbeit, sondern versuchen ihrem begrenzten Dasein einen Sinn zu geben. Zuviel für den Allmächtigen. Und so geht Gott höchstselbst auf die Erde nieder, um seine Tochter wieder einzufangen und Schlimmeres zu verhindern. Dabei erlebt er Unfassbares…
Brüssel, Belgiens Hauptstadt, außerdem Hauptsitz der EU und der NATO, als Wiege der Menschheit? Nur einer von vielen kuriosen Einfällen des belgischen Regisseurs Jaco Van Dormael (Der achte Tag, Mr. Nobody) in seinem neuesten Film Das Brandneue Testament, welcher auf der „Director’s Fortnight“ bei den Filmfestspielen von Cannes 2015 seine Premiere feierte und als belgischer Beitrag gute Aussichten auf eine Oscar-Nominierung für den fremdsprachigen Film hat.
Gott ist kein netter, alter, bärtiger, weiser Mann, der seine allmächtige schützende Hand über seine menschlichen und tierischen Schäfchen hält. Nein, der Schöpfer des Himmels und der Erde schlägt den Menschen lieber mit der Faust ins Gesicht, macht das Leben ungenießbar und schwer, wo er nur kann. Ein spießiger, jähzorniger Miesepeter, wie er nicht im Buch der Bücher steht. Mit Bierwampe, fettigen Haaren, T-Shirt, 3/4-Hose, kariertem Bademantel, Tennissocken und Adiletten sieht er aus wie eine abgehalfterte Mischung von „Dude“ aus The Big Lebowski sowie Olli Dittrichs Kunstfigur Dittsche. Bei so einem Erziehungsberechtigen kann man Tochter Ea nicht übelnehmen, dass sie ausreißt. Zumal Papa sie auch durch den Hausflur schleudert und mit dem Gürtel verprügelt, wenn sie seinen strengen Vorgaben zuwiderhandelt. Ja, bisweilen ist Das Brandneue Testament weniger lustig, sondern abgründig.
Einen nicht zu unterschätzenden Anteil dieser bunten Satire macht jedoch die Suche Eas nach ihren sechs Aposteln aus. Dabei werden auf poetische und lebensbejahende Weise die zum Teil sehr traurigen Einzelschicksale der Auserkorenen erzählt. Fast wüscht man sich, Ea nähme sich auch des kauzigen Qohen Leth aus Terry Gilliams absurder Scifi-Fabel The Zero Theorem an. Im göttlichen Wohnzimmer hängt übrigens Da Vincis Gemälde Das letzte Abendmahl, welches im Verlauf der Handlung sich selbst um weitere Personen ergänzt. Am Ende dieser gotteslästerlichen Odyssee ist man als Zuschauer gerührt, höchst amüsiert und prächtig unterhalten. Und um die Erkenntnis reicher, was passieren würde, wenn Gott eine Frau wäre.
Fazit: Jaco Van Dormaels „Brandneues Testament“ pendelt gekonnt zwischen absurder Glaubensfarce und poetisch-tiefgründiger Lebensparabel. 8 von 10 Punkten.
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Gottes Tochter Ea geht eigene Wege
Aurélie ist einsam
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