Eine kinderlose Frau findet ein Baby im Schnee, das aus einem Zug geworfen wurde und nimmt es auf. Mit Das kostbarste aller Güter, basierend auf dem gleichnamigen Jugendbuch, hat Regisseur Michel Hazanavicius (The Artist) erstmals einen Animationsfilm inszeniert.
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Das kostbarste aller Güter (Le plus précieuse des marchandises)
alternativ: The Most Precious of Cargoes (internationaler Titel)
Animationsfilm/Drama Frankreich, Belgien 2024. FSK: Freigegeben ab 12 Jahren. 81 Minuten. Kinostart: 6. März 2025.
Nach dem Jugendbuch von Jean-Claude Grumberg. Drehbuch: Michel Hazanavicius und Jean-Claude Grumberg. Regie: Michel Hazanavicius.

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Vom Schlimmsten und Besten im Menschen
Polen, 1943. Aus einem Zug, der Jüdinnen und Juden in ein Vernichtungslager transportiert, wird ein Baby geworfen. Eine kinderlose Holzfällersfrau, die mit ihrem Ehemann im nahe gelegenen Wald lebt, findet das kleine Mädchen im Schnee und nimmt es mit nach Hause. Gegen den Widerstand des Holzfällers und trotz der eigenen Armut kümmert sich die Frau um das Kind und zieht es als ihr eigenes auf…
Michel Hazanavicius (geboren 1967) ist bisher überwiegend für humorvolle Werke bekannt, wie die ersten beiden Filme der Agentenparodie-Reihe OSS 117 (2006/2009), den Stummfilm The Artist (2011), der 2012 mit fünf Oscars ausgezeichnet wurde (u.a. bester Film und beste Regie) und die Zombie-Komödie Final Cut of the Dead (2022), das Remake des japanischen Streifens One Cut of the Dead (2017). Ganz ernst gestaltet sich allerdings die neueste Regie-Arbeit des Franzosen. Auf Basis des Jugendbuchs Das kostbarste aller Güter (Le plus précieuse des marchandises, 2019), 2020 auch auf Deutsch erschienen und für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert, von Schriftsteller, Drehbuchautor und Schauspieler Jean-Claude Grumberg (geboren 1939), schuf Hazanavicius gemeinsam mit mehreren Animationsstudios und unzähligen Kooperationspartnern aus Frankreich und Belgien einen abendfüllenden Zeichentrickfilm.

Grumberg und Hazanavicius, welche die Buchvorlage gemeinsam adaptierten und sich über die Eltern des Regisseurs schon lange kennen, sind beide selbst jüdischer Abstammung. Die Verfilmung sollte ursprünglich kurz nach Erscheinen des Romans ins Rollen kommen, doch die Covid19-Pandemie machte dem einen Strich durch die Rechnung. Als Erzähler in der französischen Originalfassung fungierte Schauspiellegende Jean-Louis Trintignant (Der große Irrtum, Liebe [2012]), der kurz nach seinen Aufnahmen im Juni 2022 im Alter von 91 Jahren verstarb. In der deutschen Version übernahm Jürgen Prochnow (Das Boot, Dune) diese Sprechrolle.
Die Handlung beginnt mit dem üblichen „Es war einmal“… und hinsichtlich des Settings (ein verschneiter Wald) sowie der namenlosen Figuren bietet Das kostbarste aller Güter durchaus gängige Märchenmotive. Aber gleichzeitig ist die Story ganz klar während der Nazi-Diktatur und der Vernichtung des jüdischen Lebens in Europa verortet. Ablehnung und Vorurteile gegen jüdische Menschen (die als „Herzlose“, „Gottesmörder“ und „Ungeziefer“ bezeichnet werden) äußern sich hier unter den anderen Holzfällern. Dass die Holzfällersfrau heimlich ein jüdisches Kind aufzieht, birgt natürlich Gefahren. In der zweiten Hälfte der 80 Minuten Laufzeit wechselt der Fokus immer wieder auf die Insassen des Zuges. Hazanavicius und sein Team sparen hier nicht mit grausigen und erschütternden Bildern, weshalb der Film für jüngere Kinder nicht geeignet ist.
Rein optisch wirkt Le plus précieuse des marchandise (so der Originaltitel) als hätte man die Panels einer Graphic Novel auf minimalistische, aber wirkungsvolle Weise zum Leben erweckt. Die Hintergründe wirken teilweise fast fotorealistisch. Die überwiegend aus Grau- und Brauntönen zusammengesetzte Farbpalette unterstreicht die trostlose, bisweilen aber auch leicht verwunschene Atmosphäre.
Im Zentrum der Geschichte steht, dass extreme Zeiten in Europa vor gut 80 Jahren sowohl das Schlimmste als auch das Beste im Menschen hervorzubringen vermögen. Der Holzfäller und seine Frau haben einst ihr eigenes Kind verloren und so entschließt die Frau sich, das Baby aus dem Zug als Gottesgeschenk anzunehmen und gegen alle Widerstände aufzuziehen. Einebewegende, unsentimentale Parabel über Menschlichkeit in absolut unmenschlichen Zeiten, auch als Leuchtfeuer gegen Hass und Rassismus, die derzeit leider immer weiter voranschreiten.
Fazit: Gekonnt minimalistischer und bewegender Animationsfilm über Hoffnung und Nächstenliebe in finstersten Zeiten. 8 von 10 Punkten.
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Marius Joa, 9. März 2025. Bilder: Studiocanal.
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