Die Welle

1967 startete ein amerikanischer High-School-Lehrer ein Experiment, das heutzutage fast jedem Schüler irgendwann in seiner Schulzeit entweder als Buch oder Film begegnet: The Third Wave, besser bekannt als Die Welle. Nach über einem Vierteljahrhundert präsentiert Regisseur Dennis Gansel nun eine neue Filmversion und versetzt die Handlung dafür nach Deutschland. Ein gelungenes Experiment?

Die Welle
Drama, Deutschland 2008. FSK: freigegeben ab 12 Jahren. 107 Minuten. Deutscher Kinostart: 13. März 2008.
Mit: Jürgen Vogel, Max Riemelt, Christiane Paul, Frederick Lau, Jennifer Ulrich, Elyas M’Barek, Cristina do Rego u.a. Regie: Dennis Gansel.

Faszination Faschismus

Während einer Projektwoche zum Thema „Staatsformen“ muss der Lehrer Rainer Wenger (Jürgen Vogel, Keinohrhasen), der von den Schülern geduzt und wegen seinen antiautoritären Methoden geschätzt wird, den Bereich „Autokratie“ übernehmen. Selbst wenig begeistert davon merkt er schnell, dass die Schüler noch weniger Interesse an dem Thema haben. Sie haben keine Lust auf die unvermeidbaren, ständig wiederkehrenden Diskussionen über das Dritte Reich und sind sowieso der Meinung, dass eine Diktatur in Deutschland heutzutage nicht mehr möglich sei. Diese Äußerung stimmt Rainer nachdenklich und er entschließt sich zu einem Experiment. Er will die Schüler ohne deren Wissen zu einer Bewegung mit faschistoiden Merkmalen treiben und ihnen so klarmachen, wie stark die Faszination einer Gruppe sein kann. Doch das Experiment wird schnell zur Realität und entwickelt eine unheilvolle Dynamik…

Die Welle
ist nach Napola der zweite Film von Dennis Gansel, der sich mit dem Dritten Reich und seinen direkten und indirekten Folgen beschäftigt. Zwar behandelt er in seiner Version vordergründig allgemein die Staatsform der Autokratie, aber die Verbindung zum NS-Regime und damit speziell zum Faschismus in Deutschland unter Hitler wird nicht zuletzt von den Schülern selbst wie selbstverständlich gesetzt. Beiden Filmen gemein ist außerdem Max Riemelt (Mädchen, Mädchen 2, Der rote Kakadu), der mit der Figur des Marco einen ähnlichen Charakter spielt wie schon in Napola. Marco ist die einzig ambivalente Figur in Die Welle, die sowohl die Faszination der Bewegung als auch das Gewissen dagegen verkörpert. Er stammt aus einfachen und zerrütteten Verhältnissen und ist deshalb anfällig für das Gemeinschafts- und Gleichheitsdenken der „Welle“. Trotzdem ist er zum Schluss der Einzige innerhalb der Bewegung, der die Gefahr hinter alldem sieht und von seinem Lehrer verlangt, die „Welle“ aufzulösen. Die Figur, die außer Marco zumindest zu Beginn des Films ein kleines bisschen Ambivalenz zeigt, ist Rainer. Diese Ambivalenz kommt jedoch hauptsächlich daher, dass er der Einzige ist, der um den experimentellen Charakter der „Welle“ weiß und daher am Anfang fast etwas wie ein Doppelleben führt, wenn er abends auf sein Hausboot zurückkehrt nachdem er in der Schule eine autokratische Bewegung initiiert hat. Alle übrigen Figuren sind stereotyp und verhalten sich auch den ganzen Film dementsprechend, was allerdings nur insofern störend ist, dass die wenigen von der Vorlage abweichenden Momente nicht wirklich überraschen können. Selbst das Ende ist als Konsequenz der Charakterentwicklung eigentlich vorhersehbar und deutet sich spätestens ab der Hälfte des Filmes an.

Aber bei einem Film, der mit Berücksichtigung des Romans bereits die dritte Umsetzung eines Themas ist, liegt der Schwerpunkt nicht auf Originalität oder überraschenden Wendungen, sondern auf der Interpretation des Stoffes. Hier bietet Die Welle einige interessante Ansätze, die sich vor allem daraus ergeben, dass sich in den 27 Jahren seit dem letzten Film die Jugend und auch die Welt radikal geändert hat. Während die Schüler im „Original-Experiment“ von 1967 oder auch in der filmischen Umsetzung von 1981 voller Entsetzen auf im Unterricht gezeigte Filme des Dritten Reiches reagieren und das Experiment eher aus der Frage resultiert „Wie konnte so etwas passieren?“, zeigt Gansel die heutigen Schüler genervt von der ständigen Thematisierung des NS-Regimes und abgeklärt gegenüber jedem hypothetischen „Was wäre wenn…?“. Eine Diktatur ist in Deutschland nicht mehr möglich, Punkt. Genau aus diesem Grund war eine Neuinszenierung der „Welle“ in der heutigen Zeit und auch in Deutschland nötig, um zu zeigen, dass Faschismus jederzeit und überall möglich ist und weit mehr junge Menschen begeistert, als diese sich vorstellen können. Eine weitere Reaktion auf den geänderten Zeitgeist bildet die Einbindung der neuen Technologien wie Internet oder Handy. So erstellt die „Welle“ etwa sofort eine Homepage, ein Profil auf MySpace und filmt ihre Aktionen mit dem Handy. Wie schnell sich eine solche fiktive Organisation in der Realität dank Youtube und ähnlichen Plattformen ausbreiten würde und wie das die komplette Dynamik des Experiments beschleunigen würde, mag man sich kaum vorstellen. Eine letzte, leider äußerst zeitgemäße Neuerung findet sich schließlich in der Figur des Tim (Frederick Lau, Bergkristall), die für den geänderten Schluss des Films verantwortlich ist und deshalb nicht weiter erläutert werden soll, um nicht zuviel zu verraten.

Trotz der guten schauspielerischen Leistungen und den erwähnten Stärken im Drehbuch hat der Film auch seine Schwachstellen: Metaphern à la „Die rechte Seite ist für uns geblockt“ als es um Sitzplätze bei einem Wasserball-Spiel geht sind dann doch etwas zu gewollt und die Kameraführung ist teilweise unangenehm wackelig. Insgesamt ist Dennis Gansel jedoch eine solide, zeitgemäße Neubearbeitung gelungen, die in Zukunft wahrscheinlich in vielen Klassenzimmern zu sehen sein wird.

Fazit: Sehenswerte Neuverfilmung mit interessanten Aspekten, die teilweise etwas zu bemüht wirkt. 7 von 10 Punkten.


Die Klasse ist begeistert von der „Welle“…

… manche auch ein wenig zu sehr, so wie Tim (Frederick Lau).

Karo (Jennifer Ulrich) berichtet Rainer (Jürgen Vogel) von den unheilvollen Entwicklungen…

… auch Marco (Max Riemelt) sieht nicht mehr nur die guten Seiten der „Welle“.
Lena Stadelmann, 24. März 2008. Bilder: Constantin.

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Napola (8/10)


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