Everything Everywhere All At Once

Das immer größer expandierende Marvel Cinematic Universe hat zuletzt das Konzept des Multiversums für sich entdeckt. Doch viel spannender und einfallsreicher präsentiert sich Everything Everywhere All At Once, ein rasanter Genre-Mix des Filmemacher-Duos The Daniels, mit Michelle Yeoh in der Hauptrolle.


Everything Everywhere All At Once
Science-Fiction/Actionkomödie USA 2022. FSK: Freigegeben ab 16 Jahren. 139 Minuten. Kinostart: 28. April 2022.
Mit: Michelle Yeoh, Stephanie Hsu, Ke Huy Quan, Jamie Lee Curtis, James Hong u.v.a. Drehbuch und Regie: Daniel Kwan und Daniel Scheinert.

 



Alles in einem – Der Film oder Nur Wäsche und Steuer

Als junge Frau ist Evelyn (Michelle Yeoh) gemeinsam mit ihrem Ehemann Waymond (Ke Huy Quan) von China in die USA ausgewandert. Dort betreibt das Ehepaar seit Jahren eine eigene Wäscherei. Evelyn hat jedoch alle Hände voll zu tun. Die Party zum chinesischen Neujahrsfest steht vor der Tür, Evelyns strenger und gebrechlicher Vater Gong-gong (James Hong) ist zu Gast, Tochter Joy (Stephanie Hsu) macht Sorgen und am gleichen Tag müssen die Unterlagen für die Steuererklärung eingereicht werden. Auf dem Weg zum Termin bei der humorlosen Finanzbeamtin Deidre (Jamie Lee Curtis) zeigt sich Waymond plötzlich verändert. Er erklärt Evelyn, dass er nicht ihr Mann sondern eine Version von ihm aus einem anderen Universum sei und dass es ausgerechnet an ihr liege, das Multiversum vor einer gigantischen Bedrohung zu retten. Völlig unvorbereitet stolpert Evelyn in ein kurioses und weltenumspannendes Abenteuer…

Nach der Premiere beim South by Southwest Festival in Austin (Texas, USA) erhielt Everything Everywhere All At Once hervorragende Kritiken und stand bei Letterboxd.com, einer Social-Media-Website für Filme, lange Zeit mit der besten Durchschnittswertung auf Platz 1. Mittlerweile hat der mehrfache Oscar-Gewinner Parasite (2019) wieder die Spitze übernommen. Weil das hiesige Programmkino Central im Bürgerbräu den zweiten Spielfilm des Regie-Duos Daniel Kwan und Daniel Scheinert alias The Daniels drei Wochen nach dem regulären deutschen Kinostart doch noch zeigte, kam ich glücklicherweise in den Genuss dieses außergewöhnlichen Werkes, das aus meiner Sicht dem Hype völlig gerecht wird.

Es ist vor allem erstaunlich, was für unterschiedliche Genres und Themenfelder EEAAO vereint. Superheldenblockbuster, Martial-Arts-Action, Immigrantengeschichte, Love Story, einen philosophischen Exkurs über Höhen und Tiefen des Lebens sowie die Banalität des Alltags und absurde Komödie. Bei dieser schieren Fülle funktioniert der Film zudem als ganzes absolut prächtig. Denn im Kern steht trotz des allumspannenden Multiversum, dessen unterschiedliche Parallelwelten durch unterschiedliche Entscheidungen im Leben der Protagonistin entstanden sind, eine überaus bodenständige, emotionale Familiengeschichte.

Der zweite gemeinsame Spielfilm der Daniels bleibt aber insgesamt doch eine Komödie und eine überaus lustige. Das liegt an den teils wirklich bescheuerten und aberwitzigen. In einem Paralleluniversum haben die Menschen etwa Wurstfinger und bei jeder Rückkehr in diese Welt muss man unweigerlich lachen. Auch gelingt es durch Humor, die teils ausschweifenden Actionszenen aufzulockern. Diese kommen mit wenigen Tricksereien aus dem Computer aus, sondern präsentieren sich bei aller irrwitzigen Elemente als körperlich und hochkarätig umgesetzt. Beeindruckend was die Filmcrew in knapp drei Monaten Dreharbeiten (von Januar bis März 2020, rechtzeitig vor dem ersten Lockdown in der Corona-Pandemie) an zahllosen Setpieces und Szenen gefilmt hat und wie perfekt das alles im Schneideraum zusammengefügt wurde. Die Einflüsse, welche die Daniels hier verarbeiten, reichen von Matrix, zahllosen Actionstreifen mit Jackie Chan, Werken von Wong Kar-Wai bis hin zum Animationsfilm Ratatouille. Die Familienkonstellation erinnert etwa an The Farewell (2019). Der teils surreale, überwältigende Bilderrausch lässt sich mit der Serie Legion (2017-2019) vergleichen, auch wenn dort die Kulissenschieberei nicht in so einem atemberaubendem Tempo erfolgte. Daniel Kwan führte übrigens bei einer Episode der dritten Staffel Regie.

Herzstück dieser ganzen rasanten Achterbahnfahrt sind freilich die Schauspieler. Michelle Yeoh (James Bond: Der Morgen stirbt nie [1997], Tiger & Dragon, Die Geisha [2005], The Lady [2011], Star Trek: Discovery [2017-2020]) spielt hier die mit ihrem Leben etwas überforderte Heldin, die sich die Fähigkeiten ihrer Inkarnationen aneignet, um ihr Schicksal zu erfüllen. Die malaysische Darstellerin erweist sich dabei einmal mehr als überaus agil und unverwüstlich. Ähnliches gilt für Ke Huy Quan als Evelyns gutmütiger Ehemann. Quan spielte als Kind in dern 1980ern mit Indiana Jones und der Tempel des Todes (1984) und Die Goonies (1985) gleich in zwei großen Filmen mit, hing seine Schauspielkarriere aufgrund fehlender Rollenangebote Ende der 1990er an den Nagel, um als Stuntkoordinator (X-Men, The One) und Regie-Assistent (bei Wong Kar-Wais 2046) zu arbeiten. EEAAO bildet sein umjubeltes Comeback als Akteur vor der Kamera. Jamie Lee Curtis, bekannt vor allem aus unzähligen Halloween-Filmen, gibt die als groteske Karikatur durchgehende Finanzbeamtin Deidre und zeigt sich herrlich gegen den Strich besetzt.

Letztendlich lässt sich Everything Everywhere All At Once auch als vielfältige Hommage interpretieren: an die Karriere von Michelle Yeoh und an (asiatischstämmige) Immigranten, welche sich in einem anderen Land eine neue Existenz aufgebaut haben. Vor allem aber an Frauen, die unermüdlich an allen Fronten des Alltags kämpfen, um den Lebensunterhalt für sich und die Familie zu verdienen.

Wer die Gelegenheit dazu erhält, sollte Everything Everywhere All At Once unbedingt noch im Kino erleben. Auf DVD und BluRay erscheint der Film am 12. August 2022.

Fazit: Großartige, meisterhafte, philosopisch unterfütterte Multiversums-Achterbahnfahrt mit viel Humor, absurd-kuriosen Einfällen, bodenständig-emotionalem Kern und einem starken Cast, angeführt von der unverwüstlichen Michelle Yeoh. 10 von 10 Punkten!


Evelyn, Waymond und Joy
 

Waymond im Smoking

Im Wurstfinger-Universum

 


Marius Joa, 22. Mai 2022. Bilder: Leonine Studios.

 

 

 


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