Inland Empire

Die meisten Filme, die wir heutzutage sehen, hat man spätestens nach der letzten Szene komplett verstanden. Manchmal gibt es auch Filme, deren Sinn sich erst nach längerem Nachdenken oder erneutem Ansehen erschließt. Und schließlich gibt es solche Filme, die den banalen Vorgang des Erklärens und Verstehens hinter sich gelassen haben und sich irgendwo weit darüber bewegen. Sarah Böhlau hat sich den neuen David Lynch „Inland Empire“ angesehen, der offiziell am 26. April 2007 anläuft.

Inland Empire
Mystery/Thriller USA/Polen/Frankreich 2006. Regie und Buch: David Lynch.
Mit: Laura Dern, Jeremy Irons, Justin Theroux, Harry Dean Stanton, Julia Ormond.
Länge: 172 Minuten. FSK: ab 16.

Brenn mit einer Zigarette ein Loch in deinen Slip und sieh hindurch …

David Lynch ist Kult. Und das, obwohl seine Filme kaum jemand versteht. Eigentlich ist David Lynch gerade deswegen Kult. Er ist so etwas wie der Kafka der Filmbranche. Von gelegentlichen Experimenten mit plausiblen Narrationssträngen (zum Beispiel „Dune – Der Wüstenplanet“, „Der Elefantenmensch“) abgesehen, sind seine Filme meist dem Abgründigen, Schlafwandlerischen im Menschen verpflichtet. Seit den Siebzigern zerbrechen sich Kinogänger und Kritiker gleichermaßen über Filme wie „Blue Velvet“, „Wild at Heart“, „Lost Highway“ oder „Mulholland Drive“ die Köpfe. Der Sinn eines solchen Lynch-Films ergibt sich nie auf den ersten Blick. Und nicht nur eine Deutung ist möglich, vielmehr überlässt er diese gern dem Zuschauer.

David Lynch mit Laura Dern am Set.

Sein neuer Film „Inland Empire“ begann mit einer Szene mit seiner Lieblingsschauspielerin Laura Dern, die Lynch mit einer Handkamera filmte. Bei einem Filmfest in Polen drehte er ebenfalls einige Szenen, die er eigentlich auf seiner Website veröffentlichen wollte. Dann aber beschloss er, das Material in einem Kinofilm zu verwenden. Ebenfalls mit in den Film eingebaut wurden daheim gedrehte Szenen im Sitcomstil, die von Darstellern mit Hasenköpfen (!) gespielt wurden. Auch bei den späteren Dreharbeiten schrieb Lynch manche Szenen erst kurz, bevor sie gefilmt wurden. Wie gewohnt, agierte er nicht nur als Drehbuchautor und Regisseur, sondern produzierte und vertrieb seinen Film auch selbst. Mit der Besetzung machte Lynch keine Experimente. Nebendarsteller wie Harry Dean Stanton oder Grace Zabriskie und die Hauptdarsteller Justin Theroux und vor allem Laura Dern standen schon für mehrere Filme des Regisseurs vor der Kamera.

Also, „Inland Empire“. Untertitel: „Eine Frau in Schwierigkeiten“. Aufgrund der quälenden Länge des Films fühle ich mich selbst angesprochen, aber gemeint ist wohl eher (oder auch nicht) Protagonistin Nikki Grace (Laura Dern). Die Schauspielerin hat soeben die Hauptrolle in „On High in Blue Tomorrows“, dem neuen Film von Regisseur Kingsley Steward (Jeremy Irons) ergattert. Der Film erzählt von der tragischen Affäre einer verheirateten Frau mit einem ebenfalls anderweitig liierten Mann. Doch schon zu Beginn der Dreharbeiten erfahren Nikki und ihr Filmpartner Devon Berk (Justin Theroux), dass es Probleme mit dem Drehbuch gibt. Auf einem (verfluchten?) polnischen Volksmärchen basierend, sollte es schon einmal in Polen verfilmt werden. Doch der Film wurde nie fertig, weil noch vor Abschluss der Dreharbeiten beide Hauptdarsteller starben.

Soweit, so plausibel. Aber die reale Welt bekommt Risse, durch die Nikki tritt und auf einem (alb?)traumhaften Weg von einer unwirklichen Szene in die nächste taumelt. Die Grenzen zwischen ihr und ihrer Filmrolle Susan verschwimmen. Nikki wird ein Teil der im Film erzählten Geschichte, die ja auch die des polnischen Films ist, und die der ermordeten polnischen Hauptdarstellerin, und die des Volksmärchens, auf dem das Drehbuch basiert, und scheinbar die der jungen Brünetten, die alles weinend auf einem Fernseher verfolgt, und vielleicht auch die in der Metapher, die eine Nachbarin Nikki zu Beginn des Films erzählt, und … warum haben die Leute in diesem Wohnzimmer Hasenköpfe?

Das Grundthema des Films ist die menschliche Angst. Mehr Interpretation braucht es eigentlich nicht.

David Lynchs Filme sind auf eine seltsame Art faszinierend und auf eine rohe Art schön. Sie fordern den Intellekt des Zuschauers heraus, indem sie ihm die Deutung selbst überlassen und jede einzelne Szene lang genaues Hinsehen und höchste Konzentration verlangen. Das kann man von fast keinen Film sonst sagen. Aber leider sind fast drei Stunden eine sehr lange Zeit, was „Inland Empire“ extrem anstrengend macht. Dennoch ist „Inland Empire“ ein aufwühlendes, sehr niveauvolles Filmerlebnis. Man muss den Film nicht verstehen, um das Anliegen des Films zu verstehen. Verstanden?

Fazit: Hochwertig, aber anstrengend. 8 von 10 Punkten.


Real oder nicht? Szene aus dem Film im Film.

Kingsley Steward (Jeremy Irons).
Sarah Böhlau, 12. April 2007. Bilder: Concorde.


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