In La chimera begibt sich ein Engländer in Italien mit einer Gruppe Einheimischer auf die Suche nach antiken Grabschätzen und seiner verlorenen Liebe. Der neue Film von Regisseurin Alice Rohrwacher wurde auf dem 50. Internationalen Filmwochenende Würzburg gezeigt.
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La Chimera
Drama Italien, Schweiz, Frankreich 2023. 130 Minuten. Kinostart: 11. April 2024.
Mit: Josh O’Connor, Carol Duarte, Vincenzo Nemolatto, Isabella Rossellini, Gian Piero Capretto, Giuliano Mantovani, Lou Roy-Lecollinet, Ramona Fiorini, Julia Vella, Luciano Vergara, Alba Rohrwacher u.v.a. Drehbuch und Regie: Alice Rohrwacher.
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Zwischen Leben und Unterwelt
Norditalien, in den 1980ern. Der Engländer Arthur (Josh O’Connor) wurde gerade aus dem Gefängnis entlassen. Widerwillig kehrt er zu seinen Freunden zurück, einer Gruppe Tombaroli (zu deutsch Grabräuber) um Pirro (Vincenzo Nemolatto). Die Tombaroli sind ständig auf der Suche nach Grabbeigaben aus den Grabstätten der Etrusker, welche über die ganze Region zerstreut wird. Arthur hat die besondere Gabe, mit einer Wünschelrute diese Stellen aufspüren zu können. Nach erfolgreicher Bergung werden die Fundstücke dann an den geheimnisvollen Spartaco verkauft, der nur über Mittelsmänner kommuniziert.
Arthur, der in einer einfachen Wellblechhütte haust, hat vor kurzem seine große Liebe Benjamina (Yile Yiara Vianello) verloren. Deren Großmutter, die alte Gräfin Flora (Isabella Rossellini), lebt in ihrem alten, heruntergekommenen Domizil und freut sich über Arthurs Rückkehr. Italia (Carol Duarte) führt Flora den Haushalt und erhält von ihr im Gegenzug Gesangsstunden. Es dauert nicht lange, da haben die Tombaroli ein neues Ziel auserkoren, denn der alte Katir (Luciano Vergara) glaubt, etwas entdeckt zu haben. Nicht nur die neugierige Fotografin Melodie (Lou Roy-Lecollinet) heftet sich an die Fersen der Gruppe, sondern auch Italia, die ein Auge auf Arthur geworfen hat…
Alice Rohrwacher (geboren 1981) wuchs zusammen mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester, der Schauspielerin Alba Rohrwacher, als Kind einer italienischen Mutter und eines deutschen Vaters, der als Imker arbeitete, unter Aussteigern im Norden Italiens auf. Ihre Kindheit verarbeitete Alice im autobiographisch geprägten Film Land der Wunder (Originaltitel Le meraviglie; 2014). Auch Glücklich wie Lazzaro (Lazzaro felice), über einen ausgebeuteten Landarbeiter, spielt im gleichen Milieu. Mit La chimera wurde Rohrwachers neueste Regie-Arbeit am 27. Januar 2024 auf dem Filmwochenende in Würzburg gezeigt, welche die genannten Vorgänger zu einer Trilogie über das Leben auf dem Land komplettiert.
Im Zentrum der Handlung steht mit Arthur ein Außenseiter, dessen besondere Gabe beim Finden der Grabstätten sich als überaus hilfreich erweist. Mit seinen dreckigen Anzügen, die schon bessere Tage gesehen haben, wirkt der Engländer wie ein abgehalfterter, in der Provinz Norditaliens gestrandeter Dandy. Die von Alice Rohrwacher gezeigte Welt der Grabräuber, die nur davon leben, dass sie gefundene Objekte teuer verkaufen, in der Provinz Etrurien, welche unzählige Fundstücke der Kultur der Etrusker beherbergt, bietet einen krassen Gegenentwurf zur bekannten Urlaubsromantik, für welche die Apenninhalbinsel weithin bekannt ist.
Die Regisseurin und ihre Kamerafrau Hélène Louvart (Pina, Niemals selten manchmal immer) wählen für die Bilder und Inszenierung einen ziemlich realistischen, fast dokumentarischen Stil. Die Bilder haben abgerundete Ecken und wenn wir Arthurs Erinnerungen an Benjamina sehen, dann wechselt das Format auf 4:3, das als ob man hier Amateuraufnahmen sehen würden. Die bodenständige Geschichte um Grabräuber und ihr einfaches Leben besitzt allerdings noch eine spirituelle, mythologische Ebene. Die Tombaroli beschreiten durch ihre Arbeit den Pfad zwischen Leben und Tod, vor allem Arthur. Denn er agiert im übertragenen Sinn als moderner Orpheus, der seine verlorene Geliebte Eurydike/Benjamina aus der Unterwelt zurückholen möchte.
Josh O’Connor (bekannt als junger Prinz Charles aus den Staffeln drei und vier von The Crown) spielt den leicht melancholischen Protagonisten zurückhaltend, aber sehr wirkungsvoll. An seiner Seite sehen wir unter anderem die Brasilianerin Carol Duarte (Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão) als geerdete Italia, Vincenzo Nemolatto (Martin Eden) als schelmischen Pirro und die internationale Leinwandlegende Isabella Rossellini als Gräfin Flora. Auch Alba Rohrwacher (I Am Love, Das Märchen der Märchen) hat eine eher kleine, aber durchaus wichtige Rolle. Ihrer jüngeren Schwester gelingt es, den erzählerischen Faden zu einem etwas überraschenden, aber wundervoll stimmigen Ende zu führen.
La chimera von Alice Rohrwacher startet am 11. April 2024 in den deutschen Kinos.
Fazit: Fast dokumentarisches, mit mythischen Motiven unterfüttertes Drama über einen englischen „Grabräuber“ auf der Suche nach seiner verlorenen Liebe. 8 von 10 Punkten.
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Marius Joa, 29. Januar 2024. Bilder: Piffl Medien.
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