Nach Vorstellungsende werden die Differenzen innerhalb einer Zirkustruppe stärker. L’Étoile du jour von Regisseurin Sophie Blondy feierte auf dem diesjährigen 43. Internationalen Filmwochenende in Würzburg seine Deutschland-Premiere.
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L’Étoile du jour
Drama/Fantasy Frankreich 2012. 99 Minuten. Kinostart: unbekannt.
Mit: Denis Lavant, Tchéky Karyo, Iggy Pop, Natacha Régnier, Béatrice Dalle, Bruno Putzulu u.a. Regie: Sophie Blondy. Drehbuch: Philippe Benkemoun und Sophie Blondy.
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Der Clown und das Gewissen
Ein kleiner Wanderzirkus hat seine Zelte an der französischen Nordseeküste aufgeschlagen. Während die Vorführungen halbwegs reibungslos verlaufen, treten jedoch hinter den Kulissen die Konflikte immer offener zu Tage. Zirkusdirektor Heroy (Tchéky Karyo) ist durch das fehlende Zuschauerinteresse frustriert und lässt seine Launen nicht selten an den Künstlern aus, vor allem den Clowns. Magier Zephir (Bruno Putzulu) bittet den erfahrenen Clown Elliott (Denis Lavant) endlich etwas zu unternehmen, auch weil Heroy an Tänzerin Angèle (Natacha Régnier), Elliotts Freundin, interessiert sei. Die Zigeuner-Wahrsagerin Zohra (Béatrice Dalle) wiederum ist in Elliott verliebt, dem immer wieder sein Gewissen in Gestalt von Iggy Pop erscheint…
26. Januar 2017. Das 43. Internationale Filmwochenende in Würzburg startete an jenem Donnerstag und findet erstmals im seit November 2016 neu eröffneten Kino „Central im Bürgerbräu“ statt. Neben einer Restrospektive auf die Werke von Regisseur Edgar Reitz (Heimat-Trilogie) und Schauspieler Mathieu Carrière (Die Spaziergängerin von Sans-Souci) laufen/liefen auch einige französische Filme auf dem viertägigen Festival. Das melancholisch-surreale Zirkusdrama L’Étoile du jour erhielt 2016, vier Jahre nach der Uraufführung, immerhin einen Kinostart im eigenen Land. Dass es kleine, eigenwillige Filme schwer haben mit einer großflächigen Vermarktung, ist nichts Neues. Aber das Werk von Regisseurin Sophie Blondy, auch Schauspielerin und früher Tänzerin, wartet immerhin mit einem kuriosen Besetzungscoup auf: der „godfather of punk“ Iggy Pop in der Rolle des Gewissens!
Insgesamt wandelt L’Étoile du jour melancholisch zwischen den bodenständigen, fast naturalistischen Geschehnissen um den Zirkus sowie surrealen Szenen. Diese wirken wie als Träume inszenierte Stummfilm-Aufnahmen und Pantomime. Teilweise liefern jene Sequenzen kontrastreiche, überbelichtete Bilder. Sogar noch abwechslungsreicher gestaltet sich die musikalische Untermalung mit leicht theatralischen Schlagzeug-und Percussion-Solos (ähnlich wie in Birdman), emotionalen Cello-Passagen und Saxophon-Stücken (letztere von Steve Mackay dem 2015 verstorbenen Weggefährten Iggy Pops). Das Zusammenspiel von Musik und Bildern verleiht manchen Szenen die Ästhetik impressionistischer Videokunst.
Bessere Schauspieler für die verschiedenen Figuren des Zirkusensembles hätte Sophie Blondy, die auch für das Casting ihres Films direkt verantwortlich war, nicht finden können, wie Denis Lavant (Die Liebenden von Pont-Neuf, Mathilde – Eine große Liebe) als innerlich brodelnder Clown Elliot oder Béatrice Dalle (Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen) als temperamentvolle Zigeunerin und Stimmakrobatin Zohra. Außerdem vermeidet Blondy eine übermäßige Zurschaustellung von Freaks zugunsten einer liebevollen Darstellung der Zirkus-Mitglieder, darunter mit Flix (Hervé Chenais) auch ein Kontergan-Geschädigter (?) sowie ein Riese namens Prof (Dominique Rocher). Der von Zimsky (Frantz) verkörperte „Monsieur Muscle“ könnte fast als Doppelgänger von Danny „Machete“ Trejo durchgehen. Und last but not least wäre da auch noch der eingangs erwähnte Mr. Pop als „La conscience“, eine Mischung aus Gewissen und Schutzengel von/für Elliott. Der amerikanische Musiker sagt hier kein einziges Wort, ist aber aufgrund seines Auftretens ungemein präsent, vor allem als Elliott wortwörtlich mit seinem Gewissen ringt.
Fehlender Erfolg, Neid und Eifersüchteleien, das Aufeinanderprallen der unterschiedlichsten Charaktere, an all jenem droht das fragile Gefüge der dysfunktionalen Zirkusfamilie immer wieder zu zerbrechen. Und doch bilden die Künstler das Herz des Films, der bei melancholischer Grundstimmung auch mit gut dosiertem Humor glänzt.
Fazit: Sophie Blondys zweiter Spielfilm traumwandelt durch eine Mischung aus bodenständigem Zirkus-Familiendrama und surrealen, stummfilmartigen Szenen. 8 von 10 Punkten.
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Zirkusdirektor Heroy
Zohra, die Zigeunerin
Elliott ringt mit seinem Gewissen
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