Eine Orange auf der Flucht wird zum Sklaven auf einer Tomatenplantage und verliebt sich in eine junge Zitrone. Das ist im Groben die Handlung des im besten Sinne des Wortes ungewöhnlichen Trickfilms Lisa Limone And Maroc Orange aus Estland.
—
Lisa Limone And Maroc Orange: A Rapid Love Story (Lisa Limone ja Maroc Orange: Tormakas armulugu)
Puppentrick-Oper Estland 2013. OmeU. 72 Minuten. Regie: Mait Laas.
—
Bitter lemon opera
Eigentlich hat sich der afrikanische Flüchtling Maroc Orange alles anders vorgestellt. In Europa wollte er ein neues Leben anfangen, fern von der Armut und den menschenverachtenden Arbeitsbedingungen in seiner Heimat Marokko. Doch kaum hat er die gefährliche Bootsfahrt übers Mittelmeer gerade so überlebt, kommt er vom Regen in die Traufe. Sogleich wird Maroc Orange von rigorosen Aufsehern in eine Tomatenplantage verfrachtet, wo er mit seinen Landsleuten unter schwersten Bedingungen Tomaten pflücken muss, die in der Fabrik nebenan zu Ketchup verarbeitet werden. Währenddessen langweilt sich Lisa Limone, die Tochter des erfolgreichen Fabrik-Besitzers. Die junge Zitronen-Frau träumt von Liebe und Abenteuern. Ein Wink des Schicksals in Form einer Muschel führt Maroc und Lisa zusammen…
Orange hinter Gittern
Auch als Filmfan lernt man nie aus. Oder wussten Sie, dass auch in Estland, dem kleinsten der drei Länder im Baltikum (ca. 1,3 Millionen Einwohner), Trickfilme eine lange Tradition seit den 1930er Jahren haben? Ein aktueller Vertreter ist der 1970 geborene Mait Laas. Mit seinem neuesten Film Lisa Limone And Maroc Orange: A Rapid Love Story war er neben unzähligen weiteren Filmfestivals auch auf dem 41. Internationalen Filmwochenende in Würzburg (29. Januar bis 1. Februar 2015) zu Gast.
„Lisa & Maroc“ einen wild zusammen gemixten Cocktail zu nennen ist eine gewaltige Untertreibung. Nicht nur dass es sich bei dem Werk um Estlands ersten 3D-Film handelt, sondern auch noch um einen Puppentrick-Stop-Motion-Animationsfilm mit vermenschlichten Früchten als handelnde Personen! Und das beste kommt noch: den ganzen Film über wird kein Wort gesprochen, sondern ausschließlich gesungen!
Für Kinder ist dieser besondere Trickfilm aber nicht geeignet. Die ernsten Thematiken, die in die Handlung gepackt wurden, könnten aktueller nicht sein. Die Flucht der Orangen per marodem Boot nach Europa ins vermeintliche Paradies sowie die bittere Erkenntnis, dass man sowohl in der hinter sich gelassenen Heimat als auch in der „neuen Welt“ ein Dasein als entrechteter Arbeitsklave führt, sofern man die Überfahrt überlebt. Starker Tobak den die estnische Trickfilmschmiede Nukufilm da serviert.
Mit was könnte man „Lisa & Maroc“ am besten vergleichen? Einem riesigen Früchtekorb, der so überfüllt ist, dass die Orangen und Zitronen schon durch die Luft tanzen. Zusätzlich zur Kritik an Einwanderungspolitik und dekadentem Super-Kapitalismus gibt’s gratis noch filmische Anspielungen von Charlie Chaplins Moderne Zeiten über Der Weiße Hai bis hin zu Westside Story.
Auch musikalisch wurde hier kräftig der Pürierstab angesetzt. Die Orange Refugees singen auf Französisch, die herrschende Klasse der Zitronen (Frauen haben „Quer“-, Männer „Längsköpfe“) Italienisch und eine eigenwillige Meeresmuschel (ein wichtiges Bindeglied der Geschichte) schmettert englische Barock-Arien. Und wer schon immer mal klassische Oper, Italorap, Techno, nordafrikanische Folklore und mehr in einem surrealen Musical erleben wollte, ist hier genau richtig.
Dass die Story eher wenig ausgearbeitet ist und das Ganz mit der Zeit immermehr abdriftet, lassen wir einfach mal unter die mehr als reichliche Obstplatte fallen. Denn selten stecken in 72 Minuten soviel Liebe und Ideenreichtum. Vor allem wie viel Aufwand betrieben wurde, davon erzählt Regisseur Mait Laas im Gespräch mit dem Würzburger Publikum. Die gesamte Produktion des Films zog sich über einen Zeitraum von sieben Jahren. Ein Jahr dauerte die Herstellung der Puppen. Während bei der britischen Knetanimationsserie Shaun das Schaf (und dem bald erscheinenden Kinofilm) etwa 500 Animationskünstler am Werk sind, waren bei es bei „Lisa & Maroc“ neun! In äußerst mühevoller Handarbeit schufen sie drei Jahre lang jeden Tag nur etwa fünf Sekunden Filmmaterial. Und das alles mit einem Budget von lediglich 1,1 Millionen Euro!!!
Fazit: Lisa Limone And Maroc Orange ist ein noch nie dagewesener filmischer Obstsalat. Eine leuchtende Filmperle, die hoffentlich bald auf DVD erscheint und sowohl den Auslandsoscar als auch den Goldjungen für den besten Animationsfilm verdient. 9 von 10 Punkten.
—
Schreibe einen Kommentar