Der Abräumer bei den diesjährigen Oscars heißt No Country For Old Men und ist ein besonderer Film. Marius Joa und Johannes Michel widmen ihm eine besondere Art der Rezension: den Dialog.
No Country For Old Men
Neo-Western/Thriller/Drama USA 2007. FSK: Freigegeben ab 16 Jahren. 122 Minuten. Deutscher Kinostart: 28. Februar 2008. Mit: Tommy Lee Jones, Javier Bardem, Josh Brolin, Kelly Macdonald, Woody Harrelson, Garret Dillahunt u.v.a.
Drehbuch und Regie: Ethan & Joel Coen.
Es gibt kein Entrinnen
1980, irgendwo in der texanischen Provinz. Beim Jagen auf Gabelböcke entdeckt der Vietnam-Veteran Llewelyn Moss (Josh Brolin) das verlassene Schlachtfeld eines schief gelaufenen Drogendeals. Neben diversen Toten und zerschossenen Trucks mit verbotener Ladung findet er auch einen Koffer mit zwei Millionen Dollar. Nach anfänglichem Zögern nimmt Moss den Koffer an sich und versteckt ihn unter seinem Wohnwagen. In der folgenden Nacht kommen Moss allerdings Gewissensbisse und er kehrt zurück, um einem Mexikaner, der am Tage noch lebte, Wasser zu bringen. Doch dieser ist tot und weitere, gerade auftauchende Mexikaner zerstechen die Reifen an Moss’ Truck. Da er sich in der Folge vor den Mexikanern mit Mühe zur anderen Seite des Flusses retten kann, beschließt er, mit dem Geld abzuhauen. Seine Ehefrau Carla Jean (Kelly Macdonald) schickt Moss zu deren Mutter, um sie in Sicherheit zu wähnen. Moss ahnt bereits, dass das Verschwinden des Koffers bald böse Folgen haben könnte.
Vom misslungenen Drogendeal weiß auch der eiskalte, wortkarge und pedantische Killer Anton Chigurh (Javier Bardem), dessen bevorzugten Waffen ein eigentlich fürs Schlachten gedachte Bolzenschussgerät sowie eine höllisch aufgemotzte Schrotflinte sind. Unaufhaltsam verfolgt er die Spur des Koffers und seines neuen „Besitzers“. Dabei hinterlässt der Killer eine beachtliche Anzahl durchlöcherter Leichen. Sheriff Bell (Tommy Lee Jones) inspiziert unterdessen mit seinem Deputy (Garret Dillahunt) den Tatort und versucht, Moss vor Chigurh zu retten. Und dann wäre da noch der DEA-Agent Carson Wells (Woody Harrelson), der den Killer zur Strecke bringen soll.
Chigurh, der Mann mit dem Bolzenschussgerät
Zu No Country For Old Men starten wir unsere erste Filmkritik in Dialogform. Dazu haben sich die Redakteure Marius Joa und Johannes Michel zusammengefunden, um über den Film zu diskutieren.
Marius Joa: Der Film hat vier Oscars gewonnen und ist damit der diesjährige Abräumer. Wie ist das zu bewerten?
Johannes Michel: Nun ja, ich finde, dass es sich in vielen Bereichen um einen besonderen Film handelt. Allein schon der Mix aus den verschiedenen Genres macht ihn aus. Nur ein Neo-Western ist No Country For Old Men in keinem Falle, hinzu kommen vielmehr dramatische und auch komödiantische Elemente. Bleibt die Frage: Ist der Mix so in Ordnung, fehlt etwas oder überfordert dies den Zuschauer vielleicht sogar?
Marius Joa: Ich denke nicht, dass der Zuschauer überfordert wird. Es ist alles relativ geradlinig und verständlich. Es wird nur mehrfach über lange Zeit hinweg nichts gesprochen. Es gibt also eher wenig Dialoge, aber die sind meistens dann sehr gelungen und humorvoll, was ja als Markenzeichen der Coen-Brüder gilt.
Johannes Michel: Vor allem dann, wenn der Sheriff auftritt. Interessant ist auch, dass so gut wie jeder aus dem Arsenal der Hauptfiguren am Ende nicht überlebt – die Coen-Brüder hinterlassen eine extreme Blutspur, die am Zuschauer nicht so ohne weiteres vorbei gehen kann. Alle sind also tot, außer dem Sheriff, der ohnehin eine besondere Figur darstellt. Aus einer gewissen Sichtweise könnte er sogar als die Hauptfigur gesehen werden, oder?
Marius Joa: Ja, denn er beginnt den Film mit einem Voice-Over und ist in der letzten Szene auch die Hauptperson. Der Schluss kam allerdings etwas zu abrupt.
Johannes Michel: Das stimmt, das Ende kommt zu einem Zeitpunkt, wo der Zuschauer nicht damit rechnet, denn es sind viele Fragen offen. Unklar bleibt vor allem, ob Killer Chigurh seine Verletzungen wieder auskurieren kann – ich meine ja, aber da müssten wir schon bei den Coens anrufen und nachfragen.
Marius Joa: Meine Vermutung: der Killer flickt sich wieder zusammen und treibt seine Tötungszahlen weiter in die Höhe, wahlweise mit dem Bolzenschussgerät oder mit der aufgemotzten Schrotflinte, bei der kein Auge trocken bleibt. Sowas braucht der erfolgreiche Berufskiller von heute einfach (lacht).
Johannes Michel: Könnte natürlich sein. Aus dieser Sichtweise liegt im Fokus also die Kriminalgeschichte aus Sicht des „Bösen“. Ein Krimi ist No Country For Old Men auf jeden Fall, wenn auch ein sehr makabrer. Und das nicht nur wegen Chigurh, sondern auch aufgrund des Sheriffs, der zwar ein Sympathieträger sein mag, seine Sache aber bis zu einem bestimmten Zeitpunkt äußerst locker, ja lustlos, angeht. Zum Glück hat er aber ja einen aufgeweckten Assistenten.
Marius Joa: Der als Hilfssheriff aber noch etwas grün hinter den Ohren ist und deshalb von seinem Chef gerne aufgezogen wird. Der Film lebt einfach von diesen drei eigentümlichen Charakteren. Die Naturgewalt Chigurh, der Einzelgänger Llewelyn Moss (nicht zu vergessen) und der erfahrene und durch wenig zu erschütternde Sheriff. Aber reden wir auch mal über Moss.
Johannes Michel: Interessant finde ich, vor allem bezogen auf den Sheriff und auf Moss, auch die Theorie, dass die alten Männer am Ende versagen – das sagt ja auch schon der Filmtitel, denn wirklich junge Menschen gibt es in dem Film ja gar nicht. Die Welt ist sozusagen an ihnen vorbei gezogen. Ebenso finde ich erwähnenswert, dass es eine klassische Trennung zwischen Gut und Böse oder auch schlau und dumm hier nicht gibt. Denn Llewelyn Moss ist in keinster Weise ein Held, vielmehr läuft er vor dem Killer davon, lässt alles stehen und liegen – auch seine junge Frau – und zieht sich zurück. Dass er irgendwann an die Wand laufen muss, war ab einem gewissen Zeitpunkt klar.
Marius Joa: Moss denkt, dass er alles alleine machen kann und daran scheitert er. Er ist eindeutig die tragische Figur des Films. Vielleicht hätte er mit dem Killer einen Deal machen können und bei einem Münzwurf sein Leben gewinnen können. Denn obwohl Chigurh so knallhart und „selbstbestimmt“ ist, lässt er seine Entscheidungen ab und zu durch das Werfen einer Münze beeinflussen.
Johannes Michel: Das ist auf jeden Fall richtig – bei den Münzwurf-Szenen habe ich mich teilweise köstlich amüsiert. Aber nochmal zurück zum Ende. Welche Art von Schluss hätte deiner Meinung nach dem Film besser zu Gesicht gestanden? Oder muss ein derartiger Film auch Fragen offen lassen?
Marius Joa: Ja muss er schon. Aber vielleicht hätte man am Ende noch ein bisschen besser andeuten können, was mit Chigurh noch passiert oder die Szene vollenden, in der er der Frau von Moss auflauert. Aber bei näherem Hinsehen ist das Ende gar nicht so abwegig.
Johannes Michel: Da ist was dran. Würdest du mir zustimmen, dass die Coens hier mit den Zuschauern ein Spiel spielen? Vor allem mit deren Erwartungen, was auch wieder auf das Ende zutrifft?
Marius Joa: Ja natürlich. Ich kenne leider keinen anderen Film der Coens. Vielleicht machen die das öfters. No Country For Old Men ist auf jeden Fall ein besonderer Film mit zündenden Dialogen, tollen Schauspielern und einer minimalistischen, aber wirkungsvollen Inszenierung.
Fazit: So, das war die erste Vieraugen-Filmkritik als Dialog. Nun dürfen sich die beiden Redakteure noch dazu äußern, wie viele Punkte sie dem Film geben würden …
Marius Joa: Ich denke, wir können uns auf 8 von 10 Punkten einigen, oder?
Johannes Michel: Schwierig, ich tendiere eher einen höher. 9/10.
Llewelyn Moss.
Der Killer.
Routiniert: Sheriff Ed Tom Bell.
Marius Joa & Johannes Michel, 3. April 2008. Bilder: Universal
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