Nach der digitalisiert-entmenschlichten Arbeitswelt in Work Hard – Play Hard nimmt sich Carmen Losmann in ihrem zweiten abendfüllenden Dokumentarfilm Oeconomia der immer undurchdringlich erscheinenden Wirtschaft an und erforscht dabei die Mechanismen einer absurden Ordnung.
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Oeconomia
Dokumentation Deutschland 2020. FSK: ohne Altersbeschränkung. 89 Minuten. Kinostart: 15. Oktober 2020. Buch und Regie: Carmen Losmann.
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Woher kommt das Geld und andere elementare Fragen
Einen Besuch des DOK Leipzig war mir bisher leider nicht vergönnt. Aber immerhin schaffte ich eine Woche vor dem diesjährigen Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm (26.10.2020 bis 1.11.2020) eine aktuelle Kino-Dokumentation dort zu sehen, nämlich den zweiten Langfilm von Carmen Losmann. Vor acht Jahren stellte die 1978 geborene Filmemacherin ihren Erstling Work Hard – Play Hard (2011) auf dem Internationalen Filmwochenende 2012 in Würzburg vor, nachdem dieser im Herbst 2011 auf dem DOK Leipzig seine Premiere gefeiert hatte. Losmann beschäftigte sich darin mit den Mechanismen der modernen Arbeitswelt, die auf eine völlige Optimierung des Personals hinarbeitet und dadurch den Menschen zu einem steuerbaren Datensatz im Computer degradiert. Diese Entwicklung und ihre Folgen zeigten Losmann und ihr Kameramann Dirk Lütter mit komplett unkommentierten (teils nachgestellten) Szenen. Im gleichen Jahr veröffentlichte Lütter mit dem Spielfilm Die Ausbildung sein Debüt als Regisseur, welcher eine fiktionale Aufarbeitung der in “Work Hard” gezeigten Arbeitswelt in den Mittelpunkt rückt und von einem Auszubildenden handelt, wobei Losmann am Verfassen des Drehbuchs beteiligt war.
Für Oeconomia wählte Carmen Losmann einen ganz anderen Ansatz. Von Beginn an nimmt sie als “Erzählerin” aus dem Off eine aktive Rolle ein und versucht anhand einfacher Fragen unser heutiges Wirtschaftssystem, welches in den letzten Jahren immer “unsichtbar” und intransparenter geworden ist. In Interviews mit Insidern aus dem Finanzwesen (darunter Peter Praet, ehemaliger Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank, und Thomas Mayer, früher in gleicher Funktion bei der Deutschen Bank tätig) und mit professionellen Sprechern nachgesprochenen Telefonaten will der Film den Mechanismen des Kapitalismus auf den Grund gehen. Und obwohl die Fragestellungen denkbar einfach erscheinen, so gestaltetet sich die Suche nach Antworten und Erklärungen als schwierig. Woher kommt eigentlich das Geld genau? Wie sind die Wechselwirkungen von Gewinn und Verschuldung? Die Zusammenhänge und gewonnenen Erkenntnisse präsentiert der Film in minimalistisch aufgemachten Organigrammen. Mit einfachen Fragen bringt Losmann ihre Gesprächspartner nicht selten in Verlegenheit. Als Reaktionen gibt es entweder irritiertes Schweigen oder holprige Erklärungsversuche.
Als zweiten “Handlungsstrang” wird in der Frankfurter Fußgängerzone eine Partie Monopoly inszeniert, die allerdings nicht nach den üblichen Spielregeln funktioniert, sondern die echten wirtschaftlichen Mechanismen vereinfacht darstellt. Das Spiel nutzen die Teilnehmer – Publizistin Samirah Kenawi, Physiker Dag Schulze von Monneta, die Volkswirtschaftler Lino Zeddies und Elsa Egerer sowie Marc Sierszan vom Institut für systemische Wirtschaftsforschung und Diplom-Informatiker/Manager Stefan Krause – um über die tatsächlichen Gesetzmäßigkeiten der Wirtschaft zu sprechen und wie sich diese von dem unterscheidet, was an deutschen Hochschulen gelehrt wird.
Illustriert von Dirk Lütter mit ruhiger Kamera eingefangenen Impressionen diverse Hochhäuser mit transparenter, moderner Architektur entlarvt Oeconomia die Kausalitäten und Vorgänge des heutigen Kapitalismus als Nullsummenspiel, als Glaubenssystem, das nur funktioniert wenn man auch daran glaubt. Wie lange noch bis zum Zusammenbruch dieses absurden Systems? Vielleicht ein Thema für Carmen Losmanns nächste Dokumentation.
Fazit: Nüchtern-erhellender und entlarvender Blick auf ein intransparent gewordenes Wirtschaftssystem. 9 von 10 Punkten.
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Marius Joa, 24. Oktober 2020. Bilder: Neue Visionen.
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