Schon wieder zehn Euro Praxisgebühr abgedrückt und geärgert? Volk der Deutschen, tröste dich mit einem Blick auf das miese Gesundheitssystem der Amerikaner, von Michael Moore gewohnt unterhaltsam-provozierend aufs Korn genommen in seinem neusten Film Sicko.
Sicko.
Dokumentarfilm, USA 2007. Regie & Drehbuch: Michael Moore.
Mit: Michael Moore. Verleih: Senator. 116 Minuten.
Heal the World
Wenn sich republikanische Politiker dieser Tage mit Tonhaubenschießen die Zeit vertreiben, dann haben die Tauben sicher die Form von Michael Moores Kopf. Der Dokumentarfilmer und Autor rückt den Missständen seines Landes seit Jahren mit teilweise zweifelhaften Methoden und großem öffentlichen Interesse zu Leibe.
Doch Michael Moore trifft einen Nerv der Zeit. Entgegen aller Kritik an seiner Vorgehensweise, der Erfolg bleibt enorm: Seine Bücher sind internationale Bestselller, sein letzter Kinofilm (Fahrenheit 9/11) brach die Dokumentarfilm-Rekorde und für den davor (Bowling for Columbine) gab es einen Oscar. Mit Sicko nimmt er sich das marode Gesundheitssystem der USA vor, und sollte sich deswegen nach Themen wie Waffen oder Irakkrieg eigentlich ein Thema ausgesucht haben, an dem sich die amerikanischen Geister nicht scheiden. Denn dass es um ihre Gesundheitsversorgung schlecht bestellt ist, ist den meisten Amerikanern durchaus klar. Und die Bösen sind vor allem die Krankenversicherungen und Pharmakonzerne. Aber eben auch die Politiker, die an diesem Zustand nichts ändern, wie uns der Filmemacher erinnert. Denn Michael Moore wäre nicht Michael Moore, wenn er sich einige wohl platzierte Seitenhiebe auf die US-Regierung nehmen ließe. So versieht er eine Reihe von Politikern (inklusive Bush), die sich von der Pharmaindustrie schmieren ließen, mit schwebenden Preisschildern über ihren Köpfen.
Zu Beginn der Recherche für den Film, so erzählt uns Moore, stellte er einen Aufruf ins Internet, wonach sich Opfer des Versicherungswahnsinns bei ihm melden sollten. Innerhalb einer Woche hatten sich über 25.000 E-Mails angesammelt. An dieser Stelle wird das Spiel Moores mit der Wirkung seiner eigenen Polemik deutlich: Er zeigt den Fall eines Vaters, dessen Krankenversicherung seiner tauben Tochter unter fadenscheinigen Argumenten eine umfassende Ohren-OP verweigerte. Nachdem der Vater jedoch in einem Brief mit der Mitarbeit in Moores Film drohte, wurde der Eingriff sofort bewilligt. Mich persönlich brachte das auf eine Idee: Wenn hier in Deutschland die Ärzte das nächste Mal berechtigterweise gegen die aktuelle Gesundheitsreform demonstrieren, sollte man Michael Moore als Ehrengast einladen. Und vielleicht mit seiner Einbürgerung in die BRD drohen.
Die internationale Presse wirft Moore vor, sich in seinem Film zu sehr auf seine Landsleute als Zielgruppe zu konzentrieren. Tatsächlich ist Sicko zu polemisierend, um einem Europäer oder einen halbwegs politisch ausgeschlossenen Amerikaner etwas Neues zu erzählen. Aber um ganz ehrlich zu sein, es sind ja auch nicht die Europäer oder halbwegs politisch ausgeschlossenen Amerikaner, die Michael Moore überzeugen will. Oder könnte.
Er beginnt den Film mit Einzelschicksalen, bei denen sich die Krankenversicherungen besonders mies verhalten haben und drückt dabei ordentlich auf die Tränendrüse. Und weil Michael Moore in Rhetorik gut aufgepasst hat, setzt Sicko nicht nur auf die Argumentation „Bei uns ist es scheiße“, sondern ebenfalls auf „Bei denen ist es viel besser“. Er fliegt nach Kanada, Großbritannien und Frankreich und bewundert deren staatliche Gesundheitssysteme in ihrer ganzen Herrlichkeit. Die natürlich auch besser sind. Aber: Allzu offensichtlich polarisiert Moore hier, entwirft ein Kanaan der Gesundheitsvorsorge und blendet dabei die (durchaus vorhandenen) Probleme dieser Länder mit ihren staatlichen Gesundheitssystemen aus. Glaubt man Moore, besteht das Geheimrezept der Franzosen im Umgang mit ihrem Staat aus der Bereitschaft zu gelegentlichen friedlichen Demonstrationen. Bilder von brennenden Autos zeigt Moore an dieser Stelle nicht.
Stattdessen sitzt er mit großen, erstaunten Augen im Kreis in Frankreich lebender Amerikaner und lässt sich von den Wundern gesetzlicher Krankenversicherung, kostenlosen Krippenplätzen und bezahlten Flitterwochenurlauben erzählen („Jetzt sagt bloß, der Staat wäscht auch noch eure Wäsche!“). Und auch wenn die Recherche von Sicko unsauber und die Schwarzweißmalerei übertrieben ist, beweist Michael Moore nach wie vor ein sicheres Händchen beim Übermitteln einer klaren Aussage. Nachdem er erfahren hat, dass der Staat in Frankreich sogar Haushaltshilfen kostenlos zur Verfügung stellt, marschiert er in der letzten Szene des Films mit einem Korb schmutziger Wäsche eine Treppe Richtung Weißes Haus empor. Setzen, Eins.
Michael Moore erzählt in Sicko nichts Neues. Aber weil er eben nicht nur ein kleiner dicker Zyniker ist, sondern auch ein brillanter Dokumentarfilmer, schafft er es zum wiederholten mal, einen überaus komischen Film über ein überaus trauriges Thema zu drehen. Denn witzig ist Sicko auf alle Fälle. Wundervoll beispielsweise, als Moore gegen Ende des Films von einer großem Anti-Michael-Moore-Website berichtet, deren Betreiber die Seite wegen der Krankheit seiner Ehefrau einstellen musste. Moore spendete – natürlich anonym – den entsprechenden Betrag für die Behandlung der Frau, und die Seite ging wieder online. Niemand in diesem Land sollte in so eine Lage kommen, schlussfolgert Moores Stimme voller Ironie aus dem Off, wegen nicht übernommenen Kosten für medizinische Versorgung seine Arbeit aufgeben zu müssen. Selbst wenn diese Arbeit darin bestehe, ihn anzugreifen. Von solchen Einfällen leben die Filme und Bücher Michael Moores, und deswegen ist auch Sicko wiedereinmal ein Film, der unbedingt zu empfehlen ist.
Bemerkenswert ist auch der geniale Einfall Moores, seine (trotz allem sicher ehrliche) Liebe zu seinem Land zu unterstreichen, indem er den 11. September mit in den Film einbringt. Er zeigt einige freiwillige Helfer vom World Trade Center, deren Asbest geschädigte Lungen nicht von den Krankenkassen bezahlt werden. Behandeln wir etwa so unsere Helden?, fragt Moore voller Patriotismus und zielt damit auf den wunden Punkt seiner Landsleute. Als Paukenschlag zum Schluss lädt er sich alle im Film gezeigten Amerikaner auf einige Boote und segelt nach Guantanamo Bay in Kuba: Dort kriegen die Gefangenen nämlich kostenlose medizinische Versorgung. Und spätestens an der Stelle, wenn er per Megaphon vom Boot aus einen der Wachtürme des Gefangenenlagers auffordert, die Tore zu öffnen („Ich habe hier Hilfskräfte vom 11. September, und wir wollen nur dieselbe medizinische Versorgung wie die Terroristen da drinnen!“), hat man Moore seine Polemik vergeben. Wer das Rückgrat für so eine unverschämte Aktion hat, den muss man einfach lieben.
Fazit: Wer saubere Recherche will, liest die Süddeutsche, wer lachen will, sieht Michael Moore. 7 von 10 Punkten.
Michael Moore (links) kann es nicht glauben: Dieser französische Arzt fährt einen Audi!
Sarah Böhlau, 4. November 2007. Bilder: Senator.
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