Jerevan ist nicht nur die Hauptstadt Armeniens, sondern galt früher auch als musikalisches Zentrum der Sowietunion. Regisseurin Tatiana Daniliyants porträtiert die Metropole anhand der Geschichten von sechs Musikern.
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Six Musicians and the City
Musik-Dokumentation Armenien, Russland 2017. 73 Minuten. Kinostart: unbekannt.
Mit: Jivan Gasparyan, Lilith Pipoyan, Malkhas, Arto Tunçboyaciyan, Forsh, Michael Voskanyan u.a. Regie: Tatiana Daniliyants.
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Jerevan, deine Musiker
Zwischen Ost und West, zwischen Traditionen und Innovationen, zwischen den nostalgischen Duduk-Melodien und modernen Jazzbeats liegt die armenische Stadt Jerewan. Sechs Musiker, sechs Stilrichtungen, sechs persönliche Geschichten in einer der musikalischsten Städte Armeniens. Am Ende des 20. Jahrhunderts überstand Jerewan einige Kriege, die Blockade, eine Zeit von Finsternis und Hunger und fast vollständige Isolation. Heute verändert sich die Stadt, sucht ihre eigene Identität und ihren Platz in der Welt im neuen Jahrtausend. Die sechs Protagonisten, darunter Grammy und World Music Award-Preisträger Arto Tuncboyaciyan, Komponistin Lilith Pipoyan und die weltberühmte „Duduk-Stimme” Jivan Gasparyan, personifizieren den versteckten Schmerz und die Schönheit der Stadt und schenken den Stadtbewohnern und ihren Gästen Hoffnung auf eine bessere Zeit und friedliche Zukunft. (Inhaltsangabe von Antipode)
Die 1971 als Kind eines russischen Geologen-Paares in Algerien geborene Tatiana Daniliyants arbeitet seit ihrem Studium an der Moskauer Akademie der Schönen Künste nicht nur als Künstlerin und Dichterin, sondern vor allem als Journalistin, Produzentin, Drehbuchautorin und Regisseurin verschiedener Fernseh- und Filmproduktionen sowie seit 2010 auch als Professorin für Regie an einer Hochschule für visuelle Kunst. 2007 besuchte sie erstmals einen Jazzclub in der armenischen Hauptstadt. In der Folge lernte die selbst armenisch-stämmige Filmemacherin diverse Musiker Jerevans kennen. Zehn Jahre und viele Drehtage später erschien die Dokumentation Six Musicians and the City, welche die Musikschaffenden kurz porträtiert und auf dem 45. Internationalen Filmwochenende in Würzburg Ende Januar 2019 gezeigt wurde.
Lilith Pipoyan
Am bekanntesten unter den „Titelfiguren“ dürfte Jivan Gasparyan sein. Der mittlerweile 90jährige gilt als meisterhafter Spieler der Duduk, einer Flöte, die aus Armenien stammt und als das Nationalinstrument des Landes gilt. Gasparyan hat in seiner langen Karriere nicht nur mit anderen großen Namen wie Brian Eno, Peter Gabriel, Sting, Brian May, David Sylvain und dem Kronos Quartet zusammengearbeitet, sondern ist auch auf den Soundtracks von Filmen wie Gladiator, Syriana und Blood Diamond zu hören. Als erstes traf die Regisseurin allerdings Vahan Gevorkian alias Forsh. Die Erfolgsgeschichte des Singer-Songwriters und Komponisten vieler Lieder zwischen Folk und Pop begann Mitte der 1980er. Forsh gehört zu den beliebtesten Musikern Armeniens. Die Kamera begleitet ihn unter anderem dabei wie er eine Schulklasse samt Lehrerin trifft, die seine Lieder singen. Ein Foto mit den Fans muss natürlich sein.
Lilith Pipoyan, die einzige Frau unter den sechs vorgestellten Künstlern, wurde 1955 geboren und studierte nach Abschluss der Musikhochschule auch noch Architektur. Mit Gitarre, Klavier und ihrer an Rembetiko-Gesang erinnernden Stimme vertont sie alte Gedichte und weltliche Liedtexte aus dem Mittelalter sowie dem 18. Jahrhundert, deren Original-Melodien leider verloren gingen. Michael Voskanyan, Jahrgang 1986, gehört zur jungeren Generation der Musikszene Jerevans. Er spielt die Tar, eine aus Persien stammende Langhalslaute, ähnlich der indischen Sitar oder der Kithara aus der griechischen Antike (vgl. Gitarre). Im Alter von neun Jahren begann er eine Musikhochschule zu besuchen mit dem Schwerpunkt auf Tar und Gesang. Neben seiner Tätigkeit als Musiker in verschiedenen Orchestern und Ensembles hat Voskanyan bereits über 100 Songs und 70 Instrumentalwerke komponiert.
Als lebendes Museum für die Jazzmusik Jerevans fungiert Levon Malkhasyan alias Malkhas. Der 1945 geborene Pianist gründete nicht nur das International Jazz Festival Jerevan, sondern besitzt auch seine eigene Lokalität, den Malkhas Jazz Club, in welchem der armenische „Godfather of Jazz“ regelmäßig auftritt. Malkhas wirkt mit den Erzählungen aus einem Leben wie die humoristische Seele des Films. Er scheint zum Inventar der Stadt zu gehören und man möchte es sich gar nicht ausmalen wie es ohne ihn sein wird. Musikalisch hat mich persönlich Arto Tunçboyaciyan am meisten begeistert. Seine Lebensgeschichte unterscheidet sich stark von denen der fünf anderen Charakteren. Geboren 1957 in Istanbul, gehört Artos Familie zur armenischen Minderheit in der Türkei. Bereits mit 11 Jahren spielte er gemeinsam mit seinem Bruder und anderen traditionelle anatolische Musik. Nach seiner Emigration in die USA 1981 setzt Tunçboyaciyan seine Karriere dort fort und ist seitdem Mitglied des Quartetts Night Ark, zu welchem auch zwei weitere armenisch-stämmige Amerikaner gehören. Darüberhinaus arbeitete Arto unter anderem mit der Jazzlegende Chet Baker sowie der Alternative-Metal-Band System of a Down, deren komplette Besetzung ebenfalls armenische Wurzeln besitzt, zusammen. Kennzeichnend für Tunçboyaciyans musikalischen Stil sind wortlose Vokalisation und Percussions. Der eigenwillige Gesang geht auf seine Kindheit zurück, in welcher Arto seine Muttersprache verstecken musste und daher ohne Lyrics sang. Bei Live-Konzerten kann es schonmal vorkommen, dass Arto Tunçboyaciyan in eine Flasche hinein singt während er die Bühne betritt. Als Teil der Formation The Paul Winter Consort gewann er 2011 einen Grammy.
Während die Doku immer wieder zwischen den sechs Protagonisten hin- und herwechselt, bekommt man als Zuschauer auch Einiges von der armenischen Hauptstadt zu sehen, deren Bevölkerung sich in den letzten gut fünzig Jahren auf etwa eine Millionen verdoppelte. Die Denkmäler und antiken Bauwerke zeugen von der turbulenten Vergangenheit der Stadt und des Landes. Neben der modernen Metropole blickt der Film aber auch in weniger frequentierte Ecken. Im Hintergrund thront der ruhende Vulkan Ararat über der Stadt. Ein majestätischer Anblick.
Ein deutscher Kinostart des Dokumentarfilms ist bisher unbekannt und auch eher unwahrscheinlich. Vermutlich wird Six Musicians and the City ähnlich wie Lomax in Éirinn in nicht allzu ferner Zukunft auf dem deutsch-französischen Kultursender Arte zu sehen sein.
Fazit: Mit Six Musicians and the City liefert Tatiana Daniliyants keine Reise-Doku, sondern ein musikalisches Städtepoträts Jerevans mit interessanten Akteuren. 8 von 10 Punkten.
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Jivan Gasparyan und Sohn
Arto Tunçboyaciyan
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Marius Joa, 27. Februar 2019. Inhaltsangabe und Bilder: Antipode.
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