TÁR

Sechzehn Jahre nach Little Children (2006) hat Todd Field wieder einen Film gemacht. TÁR dreht sich um die titelgebende, fiktionale Dirigentin Lydia Tár, gespielt von Oscar-Gewinnerin Cate Blanchett.

TÁR
Psychodrama/Musikfilm USA, Deutschland 2022. FSK: Freigegeben ab 12 Jahren. 158 Minuten. Kinostart: 2. März 2023.
Mit: Cate Blanchett, Nina Hoss, Noémie Merlant, Sophie Kauer, Mila Bogojevic, Allan Corduner, Julian Glover, Mark Strong u.a. Drehbuch und Regie: Todd Field.

Von der Macht des Maestro

Lydia Tár (Cate Blanchett) hat es geschafft. Die amerikanische Dirigentin hat sich in einer männernominierten Welt durchgesetzt und gehört zu den besten ihres Faches. Seit Jahren leitet sie mit den Berliner Philharmonikern eines der renommiertesten Orchester der Welt und steht vor der Veröffentlichung ihrer Autobiografie. Auch privat scheint es für Lydia gut zu laufen. Mit ihrer Ehefrau, der Konzertmeisterin und Violinistin Shannon (Nina Hoss), hat sie eine Tochter namens Petra (Mila Bogojevic). Tár sieht nun vor der größten Herausforderung ihrer Karriere. Mit dem Orchester studiert sie die berühmte 5. Sinfonie von Gustav Mahler ein. Daneben versucht Lydia sich auch an einer eigenen Komposition und hetzt mit ihrer Assistentin Francesca (Noémie Merlant) von einem Termin zum nächsten. Als Vorwürfe einer früheren Schülerin und möglicherweise auch Ex-Geliebten laut werden beginnt Lydias Leben allmählich aus den Fugen zu geraten. Sie hört vor allem nachts merkwürdige Geräusche und verkriecht sich immer mehr in ihre alte Wohnung. Auch Lydias bevorzugte Behandlung der jungen russischen Cellistin Olga (Sophie Knauer) kommt nicht bei allen gut an. Da trifft eine schreckliche Nachricht ein…

Bei der 95. Oscar-Verleihung in der Nacht vom 12. auf den 13. März 2023 geht Tár neben dem genialen Multiversumsabenteuer Everything Everywhere All At Once (11 Nominierungen), der irischen Tragikomödie The Banshees of Inisherin (9), dem deutschen Antikriegsfilm Im Westen Nichts Neues (ebenfalls 9) und Baz Luhrmanns Biopic Elvis (8) mit immerhin sechs Nominierungen als einer der hochgehandelten Filme ins Rennen. Regisseur und Drehbuchautor Todd Field (geboren 1964), der früher auch als Schauspieler gearbeitet hat, liefert mit dem Musik-Drama erst seine dritte Regie-Arbeit fürs Kino ab. Bereits die beiden bisherigen, In the Bedroom (2001) und Little Children (2006), waren Kandidaten bei den Academy Awards. Tár erweist sich dahingehend als stimmig, dass es ein vielschichtiger Film über eine komplexe Hauptfigur ist.

Field befasst sich in seinem dritten Spielfilm vor allem mit einem Thema: die Macht, welche führende Personen in einer Branche aufgrund ihrer besonderen Position innehalten und wie mit dieser Machtsituation umgegangen wird. Lydia Tár ist eine absolute Koryphäe auf ihrem Gebiet. Ein Status, den sich die Dirigentin über einen langen Zeitraum erarbeitet hat. Da erscheint es nicht verwunderlich, dass der weibliche Maestro auf dem Weg in die Weltspitze Leichen im Keller hinterlassen hat. Lydias frühere Assistentin und Schülern Krista, mit welcher sie wohl auch ein intimes Verhältnis hatte, erhebt schwere Vorwürfe gegen die Star-Dirigentin. Was genau zwischen den beiden Frauen vorgefallen ist, inwieweit Lydia ihre Machtposition ausgenutzt hat, wird nicht genau enthüllt. Durch zeitweise kurz eingeblendete E-Mails erfährt man als Zuschauer*in allerdings, dass Tár Krista mögliche Karriereoptionen verbaut hat, indem sie andere Orchester davor warnte, die junge Nachwuchsdirigentin einzustellen.

Die titelgebende Protagonistin wird aber keineswegs als absolutes Ekel oder bösartige Taktstock-Diktatorin dargestellt. Nein, Lydia Tár erweist sich als vielschichtiger Mensch, nicht ohne Widersprüchlichkeiten. Das Ergebnis einer Erfolgsgeschichte, wie sie nur wenigen vergönnt ist und in derem steinigen Verlauf man nur mit Nettsein nicht weiterkommt. Field befasst sich anhand seiner schillernden Protagonistin auch mit dem Thema Cancel Culture und die Frage nach, ob man das Werk von Künstler*innen losgelöst von derem Privatleben oder der politischen Einstellung betrachten kann. Definitive Antworten gibt es nicht. Dass Field in seinem Drehbuch sehr viel mit Auslassungen arbeitet funktioniert über weite Strecken sehr gut. Im letzten Drittel geschieht der Abstieg Lydias aber leider etwas zu sprunghaft und wirkt daher etwas unfertig, trotz einer epischen Laufzeit von knapp 160 Minuten.

Neben New York und Bangkok wurde die amerikanisch-deutsche Co-Produktion überwiegend in Deutschland gedreht, nämlich in Berlin, Potsdam und Dresden, wobei die Dresdner Philharmoniker als Berliner Orchester fungierten. Der deutsche Kameramann Florian Hoffmeister (Mortdecai – Der Teilzeitgauner, Johnny English – Man lebt nur dreimal) filmt die meisten Szenen in sehr langen Takes, etwa in einer ca. fünfzehn Minuten langen Sequenz ohne Schnitt, in welcher Lydia Tár eine Gastvorlesung an der Juilliard School in New York hält. Auch wenn das hier definitiv kein einfach goutierbares Stück Kino abgeliefert wird hat so funktioniert TÁR auch wenn man als Zuschauer*in wenig bis keine Ahnung von klassischer Musik hat. Bei mir selbst ist der Musik-Unterricht schon gut 20 Jahre her und dennoch konnte ich der Handlung gut folgen.

Cate Blanchett hat bereits zwei Oscars gewonnen (als beste Nebendarstellerin für Aviator [2004] sowie als beste Hauptdarstellerin in Blue Jasmin [2013]). Darüber hinaus habe ich die australische Schauspielerin bereits in unzähligen Filmen erleben dürfen, wie in der Rolle der mächtigen Elbin Galadriel in den Herr der Ringe– (2001-2003) und Hobbit-Trilogien von Peter Jackson, als Königin Elisabeth I. in Elizabeth (1998) und Elizabeth: Das goldene Königreich (2007), als einer der sechs “inkarnationen” von Bob Dylan in I’m Not There (2007), als Tänzerin Daisy in David Finchers Der seltsame Fall des Benjamin Button (2008), in der Rolle der herrlich überzeichneten Todesgöttin Hela im MCU-Blockbuster Thor – Tag der Entscheidung (2017) sowie zuletzt als genüssliche Femme-Fatale-Therapeutin in Nightmare Alley (2021) und als Sprecherin eines fauchenden Affen in Guillermo del Toro’s Pinocchio (2022). Todd Field schrieb die Rolle der Lydia Tár ausschließlich für Blanchett und hätte den Film ohne sie nicht gemacht.

Als ambivalent angelegte Dirigentin liefert Cate Blanchett eine herausragende Performance ab. Für die sehr fordernde Rolle musste die 53jährige nicht nur ihre Deutsch-Kenntnisse und ihren Umgang mit dem Klavier wieder auffrischen, sondern auch das Dirigieren lernen. Denn wenn Maestro Tár im Film das Orchester leitet sehen wir wirklich Cate Blanchett den Taktstock schwingen. Die Australierin besticht zudem durch eine unnachahmliche androgyne Präsenz, wie man sie in ähnlicher Form allenfalls von Tilda Swinton kennt. Blanchetts achte Oscar-Nominierung geht jedenfalls mehr als in Ordnung. Neben der omnipräsenten Hauptfigur stehen die weiteren weiblichen Charaktere im Fokus der Geschichte. Nina Hoss (Barbara) als Lydias Ehefrau Shannon, gleichzeitig auch Konzertmeisterin/Violinistin des Orchesters, und Noémie Merlant (Porträt einer jungen Frau in Flammen) als Assistentin Francesca verkörpern die wichtigsten Menschen im Privat- und Arbeitsleben Társ und ergänzen die Protagonistin. Als junge russische Cellistin Olga, einem Neuzugang im Orchester, gibt die britisch-deutsche Musikerin Sophie Kauer ihr gelungenes Schauspieldebüt.

Fazit: Vielschichtiges Drama über eine komplexe und widersprüchliche Dirigentin mit der herausragenden Cate Blanchett in der Hauptrolle. 8 von 10 Punkten.




Shannon und Lydia sind ein Paar
Lydia fördert die junge Olga
Mentor Andris
Beim Joggen



Marius Joa, 11. März 2023. Bilder: Universal/Focus Features.


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Kommentare

Eine Antwort zu „TÁR“

  1. Avatar von Gina

    Schöne Kritik. Stimmt, solche Rollen sind wir eher von Tilda Swinton gewohnt, die auch jedes Mal bravourös abliefert.
    Das Ende kam mir auch ein bisschen zu abrupt dann.

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