Zwei Ikonen des europäischen Kinos, ein Kurzfilm. Almodóvar. Swinton. The Human Voice.
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The Human Voice (La Voz Humana)
Kurzfilm/Drama Spanien, USA 2020. 30 Minuten. Kinostart: 14. November 2021.
Mit: Tilda Swinton, Dash u.a. Frei nach dem Theaterstück La Voix humaine von Jean Cocteau. Drehbuch und Regie: Pedro Almodóvar.
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Trennung und Isolation
Seit drei Tagen wartet eine Frau (Tilda Swinton) auf die Rückkehr ihres Geliebten. Die Beziehung steht vor dem Ende und seine Koffer stehen schon zur Abholung bereit. Auch der Hund des Mannes (Dash) sehnt sich nach seinem Herrchen. Mit der Zeit beginnt die Frau zu verzweifeln und zu drastischen Mitteln zu greifen. Da erhält sie einen Anruf…
Der französische Schriftsteller, Dramatiker, Dichter, Filmregisseur und Maler Jean Cocteau (1889-1963) schrieb das 1930 erstmals aufgeführte Ein-Personen-Stück La Voix humaine („Die menschliche Stimme“), in welchem eine Frau auf die Ankunft ihres Geliebten wartet und mit ihm am Telefon spricht. Der Stoff wurde bereits unzählige Male verfilmt . Roberto Rossellini adaptiert das Stück als eine Hälfte seines Anthologiefilms Amore (1948), mit Anna Magnani (Fellinis Roma) in der Hauptrolle. 1966 erschien eine Aufzeichung einer Theateraufführung mit Ingrid Bergman. 2014 (mit Sophia Loren) und 2018 (mit Rosamund Pike) gab es bereits Adaptionen als Kurzfilm. Eine spanischsprachige Verfilmung aus den USA erschien dieses Jahr. Bereits ein Jahr zuvor feierte die Fassung von Pedro Almodóvar und mit Tilda Swinton ihre Premiere im September 2020 beim Internationalen Filmfestival von Venedig.
Starke Frauenfigur im Zentrum der Handlung sind ein Markenzeichen von Pedro Almodóvar (geboren 1949). Im Jahr nach seinem letzten Spielfilm Leid und Herrlichkeit (2019) machte sich der spanische Regisseur an seine kurze Version von La Voix humaine. Gedreht wurde unter strengen Auflagen mitten in der Corona-Pandemie in Madrid vom 16. bis 27. Juli 2020. Die schottische Schauspielikone Tilda Swinton hatte Almodóvar ein paar Mal bei Festivals getroffen und ihm dabei versichert, dass sie für eine Zusammenarbeit mit ihm entweder Spanisch lernen oder eine Stumme spielen würde. Dazu musst es aber nicht kommen. Denn der 30-Minüter The Human Voice ist Almodóvars erste englischsprachige Arbeit. Swinton spielt darin die verlassene Protagonistin, die sich verzweifelt zu beschäftigen versucht und schließlich (ganz modern) mit ihrem abwesenden Geliebten über Smartphone und kabellose Ohrenstöpsel ein anfangs unspektakuläres aber zunehmend brutal ehrliches Gespräch führt. Die Stimme am anderen Ende der Leitung hört man allerdings nicht.
Den Ursprung der Geschichte auf der Bühne schlägt sich auch in Almodóvars Inszenierung nieder. Die Frau lebt in einer farbenfroh eingerichteten, stylishen Wohnung (ähnlich wie die Hauptfigur aus Leid und Herrlichkeit). Außerdem betritt sie aber immer eine Art Studio, welches fast leersteht. So wirkt das ganze Werk wie eine kuriose Mischung aus Monolog und hochwertiger Mode- und Einrichtungsschau. Passend dazu trägt Madame Swinton nur die tollsten Outfits. Im blauen Kostüm (siehe Bild) wirkt die hochgewachsene Schottin wie eine mögliche Zwillingsschwester der 2016 verstorbenen Musiklegende David Bowie, an dessen Seite sie 2013 im Musikvideo zu The Stars (Are Out Tonight) agierte. So werden durch Set- und Kostümdesign perfekt der äußere Schein der Frauenfigur im Zentrum der Handlung transportiert. Sie ist Schauspielerin und weiß wie man eine gute Präsentation abliefert, doch sukzessive bröckelt ihre Fassade. Tilda Swinton (mitterweile unglaubliche 61 Jahre jung) hat zwar seit den Anfängen ihrer Karriere in den 1980ern kaum noch oder gar nicht mehr auf der Theaterbühne gestanden, doch hier liefert sie, wie schon unzählige Male in ihrer abwechslungsreichen Karriere, eine eindrucksvolle Performance ab. Aber keinesfalls vergessen darf man den zweiten, überaus wichtigen Darsteller des Kurzfilms, den Hund Dash, welcher Swinton nicht nur als adäquater Spielpartner zur Seite steht, sondern auch mit seiner Emotionalität überzeugt.
The Human Voice wurde an einem einzigen Tag, am 14. November 2021 (dem Europäischen Kinotag) in den deutschen Kinos gezeigt. Im Anschluss konnte man außerdem ein etwa 50minütiges, sehr unterhaltsamtes Interview des britischen Filmjournalisten Mark Kermode mit Pedro Almodóvar und Tilda Swinton sehen. Die deutsche Heimkinoauswertung (DVD, BluRay oder Stream) steht bisher leider noch aus.
Fazit: Ästhetisch hochwertiger Kurzfilm, mit einer stark aufspielenden Tilda Swinton als verlassener Frau. 8 von 10 Punkten.
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Warten auf den Geliebten
Wann kommt er endlich?
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Marius Joa, 18. November 2021. Bilder: Studiocanal.
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