Es war unvermeidlich, dass nach Kenneth Branaghs mäßiger Neuverfilmung von Agatha Christies Krimiklassiker Mord im Orientexpress aus dem Jahre 2017 eine Neuauflage von Tod auf dem Nil kommen würde. Nach diversen Verschiebungen läuft der zweite Film mit Branagh als belgischem Meisterdetektiv Hercule Poirot nun in den Kinos.
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Tod auf dem Nil (Death on the Nile)
Krimi/Drama UK, USA 2022. FSK: Freigegeben ab 12 Jahren. 127 Minuten.
Kinostart: 10. Februar 2022.
Mit: Kenneth Branagh, Tom Bateman, Annette Bening, Russell Brand, Ali Fazal, Dawn French, Gal Gadot, Armie Hammer, Rose Leslie, Emma Mackey, Sophie Okonedo, Jennifer Saunders, Letitia Wright u.a.. Nach dem Roman von Agatha Christie. Drehbuch: Michael Green. Regie: Kenneth Branagh.
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Branaghs flirtige Fantasy-Flussfahrt
London, 1937. Jacqueline “Jackie” de Bellefort (Emma Mackey) und Simon Doyle (Armie Hammer) sind ein schwer verliebtes, frisch verlobtes Paar, aber leider beide mittellos. Daraufhin bittet Jackie ihre beste Freundin, die steinreiche Erbin Linnet Ridgeway (Gal Gadot) um einen Gefallen. Linnet soll Simon einen Job als Verwalter ihres neuen Anwesens geben. Linnet willigt ein, doch beim ersten Kennenlernen funkt es zwischen ihr und Simon. Einige Monate später ist die Verlobung mit Jackie gelöst und Simon heiratet stattdessen Linnet. Die Flitterwochen verbringen die frisch Vermählten in Ägypten, gemeinsam mit einigen Verwandten und Freunden, darunter Linnets Patentante, die zum Kommunismus “übergelaufene” Society-Lady Marie Van Schuyler (Jennifer Saunders), deren Krankenschwester Bowers (Dawn French), Linnets Cousin und Anwalt Andrew Katchadourian (Ali Fazal), Linnets Ex-Verlobter Dr. Windlesham (Russell Brand), Linnets alte Schulfreundin Rosalie Otterbourne (Letitia Wright) und deren Tante, die gefragte Sängerin Salome Otterbourne (Sophie Okonedo). Durch seinen guten Freund Bouc (Tom Bateman) und dessen Mutter, Malerin Euphemia (Annette Bening), stößt auch der legendäre Meisterdetektiv Hercule Poirot (Kenneth Branagh) zur schillernden Festgesellschaft. Simon und Linnet bitten Poirot um Hilfe. Denn seit ihrer Hochzeit werden die beiden auf Schritt und Tritt von der eifersüchtigen Jackie verfolgt. Kurz nachdem sich die Feierlichkeiten auf den Nildampfer Karnak verlagert haben wird Linnet eines Morgens von ihrem Dienstmädchen Louise (Rose Leslie) tot aufgefunden. Poirot nimmt sogleich die Ermittlungen auf…
Was habe ich im Vorfeld des Kinobesuchs des Remakes von Tod auf dem Nil erwartet? Eigentlich eine mäßige und unnötige Angelegenheit wie es schon Branaghs Version von Mord im Orientexpress von 2017 war, deren Bewertung ich im Rahmen einer Zweitsichtung im April 2021 sogar noch von 4 auf 3 von 10 nach unten korrigieren musste. Ein wirres Drehbuch, welches die geschickt konstruierte aber nicht sonderlich komplexe Handlung nicht organisch wiederzugeben vermag, unsinnige Änderungen und Figurenverschmelzungen (siehe Dr. Arbuthnot als Kombination aus Dr. Constantine und Colonel Arbuthnot), albernes Geballer und unsinnige Actionszenen sowie vor allem ein scheinbar selbstverliebter Leading Man bzw. Regisseur, der kaum eine Gelegenheit auslässt, den eigenwillig-genialen Hercule Poirot als theatralische Witzfigur darzustellen, indem er die Spleens des belgischen Detektivs den Zuschauern mit dem Holzhammer einbläut. Ach ja und natürlich ein Revival des peinlichsten Schnurrbartes der jüngeren Filmgeschichte.
Teilweise oder vielleicht sogar überwiegend hat der Film meine Erwartungen diesbezüglich erfüllt, doch mich in einem Punkt überrascht. Das Drehbuch streut derart viele Ideen, Themen und Motive ein, dass mir die ganze Geschichte im Kinosaal über weite Strecken sehr surreal vorkam, ähnlich wie damals die völlig an der Hauptgeschichte vorbeigehenden Fanfiction-Abschweifungen in Der Hobbit: Smaugs Einöde (2013). Regisseur/Hauptdarsteller Branagh und Drehbuchautor Michael Green (u.a. American Gods: Staffel 1, Blade Runner 2049), letzterer hatte schon das Skript zum Vorgänger verzapft, begnügen sich nicht damit einfach nur den Fall allein erneut auf die Leinwand zu bringen, sondern exerzieren darüber hinaus noch eine Art Versuchsanordnung über die Mannigfaltigkeit der Liebe und ihre Folgen durch. Das mag auf dem Papier spannend klingen, bremst die Flussfahrt aber leider ziemlich aus.
Wobei man zugestehen muss, dass sich der Nildampfer Karnak, auf welchem sich ein Großteil der Handlung abspielt, generell wenig vom Fleck bewegt und gefühlt die meiste Zeit vor der mäßigen CGI-Version des Tempels von Abu Simpel ruht. Die Crew verzichtete auf Dreharbeiten an Originalschauplätzen und filmte stattdessen in Marokko sowie in den Longcross Studios im englischen Surrey. Die Kostüme und Sets sehen zwar erwartungsgemäß edel aus, doch gleichzeitig wirken die Panoramen außerhalb des Schiffes überaus künstlich, weil der Einsatz von Greenscreen-Aufnahmen nicht so gut kaschiert wird, wie man es heutzutage von einer derart aufwändigen Produktion (Kosten ca. 120 Millionen Pfund) erwarten kann. Neben Dune und James Bond: Keine Zeit zu Sterben (beide 2021) war Tod auf dem Nil sicherlich der in der Covid-19-Pandemie am meisten verschobene Film. Nach geplanten Startterminen im Oktober 2020, Dezember 2020 und September 2021 wurde es schließlich Februar 2022. Leider hat man die Zeit nicht genutzt, um nochmal gehörig an den visuellen Effekten zu feilen. Denn als die Pandemie im Frühjahr 2020 weltweit so richtig loslegte waren alle Szenen bereits im Kasten.
Es ist nicht so, dass Branagh und Green hier nur Unsinn veranstalten, aber aus meiner Sicht folgt auf jede sinnvolle, gute Änderung oder Vermischung mindestens eine schwache. Auch spricht nichts dagegen, dass jede Adaption in Bezug auf die Story etwas anderen Schwerpunkt setzen, doch bei der nunmehr dritten Verfilmung wollen die Beteiligten einfach zuviel und so wirkt das Gesamtergebnis streckenweise inhaltlich überladen. Weil die ganze Geschichte lange braucht um überhaupt in die Gänge zu kommen bleibt in der zweiten Hälfte nicht genug Zeit, den Krimiplot souverän fertig zu erzählen, so dass dieser schließlich gehetzt heruntergespult wird. In der überflüssigen Eröffnungsszene erfahren die Zuschauer, dass Poirot schon als Offizier im Ersten Weltkrieg ein besserwisserisches Genie war, allerdings nicht den Tod seines Kapitäns bei einer Bombenexplosion verhindern konnte und dabei selbst eine schwere Gesichtsverletzung davongetragen hat. Nach dem Krieg heiratete Hercule eine einfühlsame Krankenschwester, die wie man später erfährt irgendwann danach verstarb. Somit erklärt sich auch, warum sich der belgische Detektiv diesen monströsen (aber glücklicherweise nicht mehr ganz so peinlich wie im ersten Film aussehenden) Schnurrbart zugelegt hat. Zum einen um die Narben seiner Verletzung zu verstecken und zum anderen als Hommage an den gefallenen Vorgesetzten. Ganz nette Einfälle, aber für die Haupthandlung völlig irrelevant. Dankenswerterweise werden Poirots Eigenheiten hier nicht bei jeder sich bietenden Gelegenheit ins Lächerliche gezogen, aber die Verhaltensweisen und Hintergrundgeschichten, welche man ihm hier andichtet, wirken dann doch eher wie liebevolle gemeinte, aber nicht hilfreiche Fanfiction, die gefühlt alle erdenklichen Möglichkeiten auszuprobieren scheint.
Jeder Kinofilm funktioniert irgendwie auch als Produkt seiner Zeit. Bereits der Roman von Agatha Christie (1890-1976) aus dem Jahre 1937 lädt ein über Kapitalismus sowie die Macht von Geld und Adelstiteln zu diskutieren. Die 2022er Version erweitert dies noch, indem sie drei nichtweiße Figuren auftreten lässt, die bereits mit Rassismus zu kämpfen hat: Salome Otterbourne (hier keine Liebesromanautorin sondern Jazz-und-Blues-Sängerin) und Rosalie Otterbourne (hier ihre Nichte bzw. Managerin und nicht die Tochter) sind Afroamerikanerinnen, der vom Inder Ali Fazal gespielte Andrew Katchadourian (Linnets Cousin und Anwalt in Personalunion) ist ein dunkelhäutiger Armenier. Auch die Beziehung der reichen, hier kurioserweise zur Kommunistin avancierten Miss van Schuyler (im Roman trägt ein Adeliger diese politische Einstellung) und ihrer Krankenschwester Miss Bowers (das britische Comedy-Duo Jennifer Saunders und Dawn French in weitgehend ernsten Rollen) wurde “zeitgemäß” modifiziert. Leider sind diese Modernisierungen eher halbherzig und halten den Plot eher auf anstatt dass sie diesen weiterbringen. Mitunter wirken diese Details auch als wären sie aus “Marketinggründen” hinzugefügt worden.
Es gibt zwar die ein oder andere eher actionlastige Szenen und im Finale ein Standoff zwischen Mörder und Ermittler, aber man muss zugestehen, dass diesbezüglich die Plumpheit des Vorgängers vermieden wird. Ähnliches gilt für die übertheatralischen Anwandlungen des Monsieur Poirot, die nicht mehr so betont werden. Dennoch bin ich froh, dass weder Sir Peter Ustinov, Albert Finney noch Agatha Christe Branaghs albernes Gehampel miterleben müssen. Und trotz mancher positiver Elemente kann sich die dritte Verfilmung des Romans dann auch leider nur Platz drei sichern. Selbst die etwas durchwachsene Episode aus der Serie Poirot (2004) funktioniert besser, einfach weil sie sich aufs Wesentliche konzentriert. John Guillermins grandiose Verfilmung von 1978 dürfte auf lange Sicht unerreichbar bleiben. Jedenfalls 8bin ich gespannt ov Poirots “Liebesabenteuer” mit ein wenig Kriminalfall nebenbei weitergehen. Oder was Branagh und Green im möglichen nächsten Teil so alles mit Poirot ausprobieren wollen. Vielleicht einen Spionagethriller à la James Bond oder doch eine richtige Liebesschnulze, dieses Mal mit Happy End?
Fazit: Kenneth Branaghs Neuverfilmung von Tod auf dem Nil bietet teils gute Ansätze und ein illustres Ensemble, verkommt aber über weite Strecken zu einer unangenehm surrealen Farce, die leider nicht mehr viel mit dem Roman von Agatha Christie zu tun hat. 3 von 10 Punkten.
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Party!
Bouc und seine Mutter
Mrs. Van Schuyler und ihre Krankenschwester Bowers
Poirot greift zur Waffe
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Marius Joa, 11. Februar 2022. Bilder: Fox.
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