Die ewige Tochter

Filmemacherin Joanna Hogg und Schauspielerin Tilda Swinton verbindet eine langjährige Freundschaft. Das letztes Jahr in Venedig uraufgeführte Drama Die ewige Tochter, in welchem Swinton die Protagonistin und ihre Mutter verkörpert, bildet die insgesamt vierte Zusammenarbeit von Regisseurin und Darstellerin.

Die ewige Tochter (The Eternal Daughter)
Drama UK, USA 2022. 96 Minuten. Starttermin: 31. August 2023.
Mit: Tilda Swinton, Joseph Mydell, Carly-Sophia Davies, Louis u.a. Drehbuch und Regie: Joanna Hogg.



Geisterhafte Erinnerungen

Nach dem Tod ihres Vaters fährt Filmemacherin Julie Hart (Tilda Swinton) mit ihrer betagten Mutter Rosalind (ebenfalls Tilda Swinton) und deren Hund Louis (Louis) zu einem abgelegenem Hotel, um dort ein paar Tage zu verbringen. Das Hotel war einst das Haus von Rosalinds Tante, bei welcher sie als Kind während des Zweiten Weltkrieges lebte. Obwohl angeblich ausgebucht wirkt das Haus menschenleer und außer den beiden Frauen scheint nur die Rezeptionistin (Carly-Sophia Davies) anwesend zu sein. Eigentlich wollte Julie die Abgeschiedenheit vor Ort auch nutzen, um an ihrem neuesten Projekt zu arbeiten, doch merkwürdige Geräusche halten sie in der Nacht wach und kreativ kommt sie überhaupt nicht voran. Rosalind erzählt ihrer Tochter immer wieder von Erinnerungen, welche ihr durch die Anwesenheit im Hotel wieder in den Sinn kommen. Weil es nicht nur positive sind, bekommt Julie ein schlechtes Gewissen. Schließlich wollte sie ihrer Mutter mit dem Aufenthalt etwas Gutes tun und mit ihr eine schöne Zeit verbringen…    

Ähnlich wie Tilda Swinton wurde auch Joanna Hogg (geboren 1960) in jungen Jahren durch den queeren Künstler und Filmemacher Derek Jarman (1942-1994) beeinflusst. Von ihm erhielt Hogg ihre erste Kamera, mit welcher sie experimentelle Super8-Filme drehte. Eines dieser Werke brachte ihr einen Studienplatz an der National Film and Television School. Für ihre Abschlussarbeit, den surrealen Kurzfilm Caprice (1986) castete Hogg die damals am Anfang ihrer Karriere stehende Tilda Swinton. Zur zweiten Zusammenarbeit der beiden kam es erst etwa dreißig Jahre später, als die Regisseurin für ihren vierten Spielfilm, das autobiographische Beziehungsdrama The Souvenir (2019), Tildas 1997 geborene Tochter Honor Swinton Byrne für die Hauptrolle castete und Mama Swinton selbstverständlich auch im Film die Mutterrrolle übernahm. Zwei Jahre später folgte mit The Souvenir: Part II (2021) eine Fortsetzung, wieder mit den Swintons. Leider sind beide Werke bisher noch nicht in Deutschland erschienen, weder auf DVD/BluRay noch als Stream. Dafür aber Joanna Hoggs sechster Langfilm, der vorliegende The Eternal Daughter, zu Deutsch Die Ewige Tochter.

Dass Tilda Swinton nicht nur die ursprünglich für sie vorgesehene Rolle der Tochter Julie spielt, sondern gleich noch jene der betagten Mutter mit, war die eigene Idee der schottischen Schauspielerin. Doppel- oder andere Mehrfachrollen sind für die mittlerweile 63jährige nichts Ungewöhnliches, siehe Teknolust (2002), Hail Caesar! (2016), Okja (2017), Suspiria (2018) und zuletzt als Sprecherin in Guillermo del Toro’s Pinocchio (2022). Auch die Verkörperung einer viel älteren Person mit starkem Makeup vor der Kamera hat Swinton bereits über sich ergehen lassen, erinnert man sich an ihr kurzes Gastspiel als 85jährige Madame D. in Wes Andersons Grand Budapest Hotel (2014) oder die Performance als zerknitterter Psychotherapeut Dr. Klemperer (unter dem Pseudonym Lutz Ebersdorf) in Luca Guadagninos Remake von Suspiria. Dennoch verkommt dieser Kniff zu keiner Zeit zum Gimmick.

Inszenatorisch spielt Die ewige Tochter geschickt mit Grusel-Atmosphäre. Das Hotel und die Gegend umgibt Nebel, das Gebäude scheint menschenleer, obwohl laut der Rezeptionistin voll ausgebucht. Noch dazu hört die Protagonistin nachts merkwürdige Geräusche. Doch diese sehr dezent eingesetzten und dadurch durchaus realistischen (wer hat nicht schon einmal komische Geräusche in einem alten Haus gehört?) Genre-Elemente bilden nur den Hintergrund vor dem Joanna Hogg ihre autobiografisch gefärbte Geschichte erzählt. Lange Zeit wollte sie einen Film über ihre Mutter machen, doch anfängliche Versuche der Skriptentwicklung in den 2000er Jahren verliefen im Sande, weil Hogg (genau wie ihre Heldin Julie, die hier ebenfalls einen Film über Rosalind erschaffen will) fühlte, dass sie kein Recht habe, das Privatleben ihrer Familie fiktional aufzubereiten. Mitten in der ersten Hochphase der Corona-Pandemie konnte die britische Regisseurin schließlich den Mut finden, ihr neues Werk anzugehen. Gedreht wurde unter strenger Geheimhaltung Ende 2020 in Wales. Als einer der ausführenden Produzenten fungierte Hollywoods Regie-Legende Martin Scorsese.

Die echten Geister, welche nicht nur der Mutter, sondern auch der Tochter durch den Kopf spuken, sind die Erinnerungen an vergangene Zeiten, sowohl positive als auch negative. Diese Ambivalenz kann Julie kaum ertragen, auch weil sie dadurch ein schlechtes Gewissen hat, obgleich sie ihrer Mutter in deren späten Jahren das Leben so angenehm wie möglich zu machen versucht. Dazu plagen die Filmemacherin mittleren Alters die Sorgen um die eigene Zukunft. Denn Julie ist selbst kinderlos und weiß nicht, ob sich jemand im Alter um sie kümmern wird. Die Angst um die Sterblichkeit der eigenen Eltern und die Sorgen um den eigenen Lebensabend hallen hier ebenfalls nach. Genau wie die quälende Frage, ob man mit den betagten und verstorbenen Angehörigen (z.B. Großeltern, die den Zweiten Weltkrieg miterleben mussten) genug geredet hat.

Es gibt nicht viele Schauspielerinnen, welche eine Doppelrolle von Tochter und Mutter so gut hinbekommen würden. Für die Rolle der betagten Rosalind ließ sich Tilda Swinton in der Maske in eine etwa 80jährige transformieren und imitierte die Sprechweise ihrer eigenen Mutter, doch die schauspielerisch komplexere Performance vollführt sie als Julie, welche nicht nur mit ihrer Schreibblockade hadert, sondern auch damit, dass sie vielleicht nicht genug für ihre Mutter getan hat. Was die technische Umsetzung der Doppelrolle angeht so arbeiten Hogg und ihr Team geschickt mit Schuss- und Gegenschuss-Einstellungen, Spiegelungen und präzise gesetzten Schnitten. Schön, dass sich hierzulande immerhin ein Streaminganbieter erbarmt hat, diesen besonderen Film zu zeigen.               

Die ewige Tochter von Joanna Hogg ist seit dem 31. August 2023 Teil des Angebots von Paramount+.

Fazit: Authentisches, stimmungsvoll-leises Drama über eine Filmemacherin und die Beziehung zu ihrer Mutter in sehr dezentem Gruselsetting. 8 von 10 Punkten.


Tilda Swinton spielt Julie…
…und deren Mutter Rosalind



Marius Joa, 10. Dezember 2023. Bilder: A24/Paramount.


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