Ich sehe was, was du nicht siehst

Netflix hat sich die Rechte an den Werken des britischen Autors Roald Dahl (1916-1990) gesichert. Regisseur Wes Anderson hat für den Streamingdienst vier Kurzgeschichten als Kurzfilme adaptiert. Der erste, Ich sehe was, was du nicht siehst (Originaltitel: The Wonderful Story of Henry Sugar), handelt von einem reichen Mann und einer außergewöhnlichen Fähigkeit.

Ich sehe was, was du nicht siehst (The Wonderful Story of Henry Sugar)
Fantasy/Mystery/Kurzfilm USA 2023. 41 Minuten. Starttermin: 27. September 2023.
Mit: Benedict Cumberbatch, Ralph Fiennes, Dev Patel, Ben Kingsley, Richard Ayoade u.a. Nach der Kurzgeschichte von Roald Dahl. Drehbuch und Regie: Wes Anderson.



Von Kerzen, Karten und Kulissenschieberei

Autor Roald Dahl (Ralph Fiennes) erzählt von seinem Domizil namens „Gipsy House“in der englischen Provinz von der wundersamen Geschichte Henry Sugars. Henry Sugar (Benedict Cumberbatch) hat von seinem Vater ein beträchtliches Vermögen geerbt und daher keine finanziellen Sorgen. Dennoch giert es ihm nach weiterem Reichtum, den er teilweise durch Glücksspiel anhäuft. In der Bibliothek eines Freundes findet Henry ein merkwürdiges Buch des indischen Arztes Z.Z. Chatterjee aus Kalkutta. Dr. Chatterjee (Dev Patel) und sein Kollege Dr. Marshall (Richard Ayoade) begegnen Imdad Khan (Ben Kingsley), einem Zauberkünstler, der mit seinem Wanderzirkus gerade in der Stadt weilt. Obwohl ihm die Ärzte die Augen auf seinen eigenen Wunsch hin komplett bandagieren vermag Khan zu sehen. Chatterjee ist verblüfft und bittet Khan, ihm zu erzählen, wie er zu dieser außergewöhnlichen Fähigkeit kam. Nach der Lektüre der Aufzeichnungen des indischen Arztes beginnt Henry Sugar, sich die Technik zum Sehen ohne Augen selbst beizubringen, was ihm nach Jahren mühevollem und zähen Training auch gelingt. Henry nutzt seine neu erworbenen Wunderkräfte, um verdeckte Spielkarten im Casino zu sehen und so viel Geld zu erspielen.

Der britische Schriftsteller Roald Dahl (1916-1990) ist vor allem für seine Kinderbücher, aber auch seine makabren und schwarzhumorigen Geschichten bekannt. Seine Werke Charlie und die Schkoladenfabrik (1954), Sophiechen und der Riese (1982) und Hexen hexen (1983) wurden mehrfach fürs Kino adaptiert. 2021 sicherte sich Netflix die Verfilmungsrechte an Dahls Gesamtwerk. Der amerikanische Filmemacher Wes Anderson, der bereits Dahls Der phantastische Mr. Fox als Stopmotion-Animationsfilm (2009) umgesetzt hatte, inszenierte die Adaptionen von vier Stories jeweils als Kurzfilm. Den Anfang machte Ich sehe was, was du nicht siehst (OT: The Wonderful World of Henry Sugar), welcher auf der Titelstory der gleichnamigen, 1977 veröffentlichten Kurzgeschichtensammlung basiert, und nach seiner Premiere bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig bei Netflix veröffentlicht wurde.

Henry Sugar liest Dr. Chatterjees Buch

Andersons letzte Spielfilme – The Grand Budapest Hotel (2014), Isle of Dogs – Ataris Reise (2018) und The French Dispatch (2021) – gefielen mir gut bis sehr gut. Asteroid City (2023) empfand ich allerdings trotz gewohnt großer Starbesetzung und einem schrägen Setting als recht langweilig. Durchaus kurzweiliger präsentiert sich Ich sehe was, was du nicht siehst, auch aufgrund seiner eher knappen Länge von 41 Minuten. Anderson nutzt die Vorlage Dahls, um seinem gewohnten Stil zu frönen: symmetrischen Bildkompositionen mit Puppenhaus-Ästhetik, theaterhafter Kulissenschieberei und einer mehrfach verschachtelten Erzählung.

Mit zunehmender Laufzeit könnte man sich als Zuschauer*in durchaus fragen, ob das hier Gezeigte überhaupt noch einen Film darstellt. Bisweilen fühlt man sich bei Iswwdns nämlich in einem Hybrid aus bebildertem Hörspiel, abgefilmter Bühnenperformance und philosophischer Kunstinstallation. Wie bei Bertolt Brechts epischem Theater werden die ausgesprochenen Handlungen und Dialoge im Anschluss an ihre Äußerung in die Tat umgesetzt bzw. wiederholt. Aber für die der Vorlage innewohnenden Meta-Ebenen erscheint diese kuriose Art der Adaption genau richtig, bei welcher auch die Bedeutung der märchenhaften Elementen mitschwingt.

Egal ob man mit Andersons bisweilen etwas sperrigem Stil etwas anfangen kann oder nicht, die Präzision mit welcher hier Schauspieler*innen, Kulissenbauer*innen, Setdekorateur*innen, Maskenbildner*innen, Kameraleute usw. agieren ist beeindruckend. Jeder Kniff, jedes Detail und jede Textzeile sitzt perfekt. Ähnlich wie bei seinen Langfilmen hat der Regisseur auch hier wieder ein absolut hochkarätiges Ensemble versammelt, obgleich es mit Benedict Cumberbatch (Sherlock, Power of the Dog), Ralph Fiennes (Schindlers Liste, Grand Budapest Hotel), Sir Ben Kingsley (Gandhi, Schindlers Liste), Dev Patel (Slumdog Millionär, The Green Knight) und Richard Ayoade (The IT Crowd, The Double [2013]) nur ein Quintett umfasst, von denen jeder zwei Rollen spielt. Ich bin jedenfalls auf die weiteren Dahl-Adaptionen von Anderson gespannt.           

Ich sehe was, was du nicht siehst ist seit dem 27. September 2023 Teil des Angebots von Netflix. Die weiteren Kurzfilme Der Schwan, Der Rattenfänger und Gift sind jeweils am 28. September, 29. September und 30. September 2023 erschienen.  

Fazit: Mit präzisem Timing umgesetzter Kurzfilm-Hybrid aus Bühnenstück und Hörspiel. 7 von 10 Punkten.


Imdad Khan gibt Dr. Chatterjee und Dr. Marshall Rätsel auf



Marius Joa, 8. Oktober 2023. Bilder: Netflix/Indian Paintbrush.


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