Die antike Götter und Sagenwelt in die heutige Zeit adaptieren, das klingt nach einem doch eher frischen Ansatz. Charlie Covell (The End of the F***ing World) hat diesen in der Miniserie KAOS gewagt.
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KAOS
Fantasy-Drama/Miniserie UK 2024. FSK: Freigegeben ab 16 Jahren. 8 Folgen. Gesamtlänge: ca. 400 Minuten.
Mit: Jeff Goldblum, Janet McTeer, Stephen Dillane, Aurora Perrineau, Nabhaan Rizwan, Killian Scott, Misia Butler, Leila Farzad, Cliff Curtis, David Thewlis, Stanley Townsend, Debi Mazar, Rakie Ayola, Ramon Tikaram, Rosie Cavaliero u.v.a. Idee: Charlie Covell. Drehbuch: Charlie Covell und Georgia Christou. Regie: Georgi Banks-Davies und Runyararo Mapfumo.
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Von Prophezeiungen und Schicksal
Zeus (Joeff Goldblum) herrscht als König der Götter über den Olymp und die ganze Welt. Als er eines Tages eine Falte auf seiner Stirn entdeckt, beginnt er an sich zu zweifeln, auch wegen einer alten Prophezeiung, die den Zusammenbruch seiner Herrschaft und Chaos voraussagt. Zeus’ Gattin Hera (Janet McTeer) versucht den Götterkönig zu beruhigen, während sie allerdings eine heiße Affäre mit seinem Bruder, dem Meeresgott Poseidon (Cliff Curtis), unterhält. Dionysus (Nabhaan Rizwan), Gött des Weines und der Ekstase sowie einer von Zeus’ zahlreichen Söhnen, möchte an Einfluss unter den Olympiern gewinnen und sucht eine Aufgabe. Wie der von Zeus an einem Fels gefangene Prometheus (Stephen Dillane) weiß sind drei Sterbliche mit der Prophezeiung von Zeus untrennbar verbunden: Riddy (Aurora Perrineau), Muse und Ehefrau des musikalischen Superstars Orpheus (Killian Scott), der unter Amazonen aufgewachsene Caeneus (Misia Butler) und Ari (Leila Farzad), Tochter von Minos (Stanley Townsend), dem Präsidenten von Kreta. Als Riddy überraschend stirbt und in die Unterwelt von Totengott Hades (David Thewlis) und seiner Gattin Persephone (Rakie Ayola) reisen muss, versucht Orpheus alles um seine geliebte Frau zu retten…
Bereits in der Kindheit war Charlie Covell (geboren ca. 1984) ein großer Fan der Sagen aus der griechischen Mythologie und sah sich damals Kampf der Titanen (1981) von Desmond Davis, berühmt für seine Stop-Motion-Tricks von Ray Harryhausen, regelmäßig an. Nachdem Covell auf Basis des gleichnamigen Comics von Charles Forsman die schwarzhumorige Dramedy The End of the F***ing World (2017) geschaffen sowie geschrieben hatte und 2019 eine ebenfalls erfolgreiche zweite Staffel folgte konnte sich die Autorin ihr nächstes Projekt bei Netflix aussuchen und entschied sich für eine Übertragung der klassischen Sagen aus dem antiken Griechenland auf unsere Gegenwart. Diesen Kniff gab es etwa schon bei Percy Jackson nach den Büchern von Rick Riordan (auf zwei Filme folgte seit 2023 eine Neuauflage als Serie bei Disney+) und American Gods (2017-2021), aber so erfrischend wie bei KAOS bisher nicht.
Nach der Ankündigung der Serie im Sommer 2018 sollte allerdings noch einiges an Wasser den Meander hinunterfließen. Die Dreharbeiten fanden von Ende August 2022 bis Mitte Mai 2023 in London sowie Spanien, Malta und Italien statt. Charlie Covell schrieb sieben von acht Episoden komplett selbst, das Skript zu Folge sechs stammt von Georgia Christou. Regie führten Georgi Banks-Davies (I Hate Suzie) und Runyararo Mapfumo (Sex Education). Dazu konnte man eine illustre, teils recht namhafte Besetzung für die Schar an Haupt- und wichtigen Nebenrollen gewinnen. Die achtteilige Miniserie besticht aber erst einmal durch ihre Inszenierung.
Anstatt die Präsenz der antiken Gottheiten mit viel Effektgewitter zu zelebrieren, wie man das auch bei bekannten Comic-Verfilmungen gerne macht, bleibt KAOS über weite Strecken sehr bodenständig. Die Götter werden als reiche Hipster dargestellt. Meeresgott Poseidon vergnügt sich am liebsten auf seiner Luxusyacht während Zeus und seine Ehefrau Hera in einer prunkvollen Villa in sonnigen Gefilden logieren, selbstverständlich in teuren Outfits. Ansonsten erinnert das Setting an eine Mischung aus den staubigen Südstaaten der USA und den schillernden Metropolen Südeuropas. Mit Ausnahme der Unterwelt als herrlich triste Arbeiter-Stadt in stimmungsvollen Schwarzweiß-Bildern.
Meine Erwartungen waren vor nach dem ersten Trailer und einzelnen eher verhaltenen Reviews eher gering. Als dann im Oktober, wenige Wochen nach der Veröffentlichung (29. August), bekannt wurde, dass Netflix die Serie einstellt, war ich umso skeptischer. Die Urban-Fantasy-Produktion benötigt ein paar Folgen um inhaltlich richtig in die Gänge zu kommen, aber insgesamt macht KAOS in narrativer Hinsicht eine sehr gute Figur, vor allem wenn der als Erzähler fungierende Prometheus (die meiste Zeit über an einem Felsen hängend, während ihm ein Adler die Leber auspickt) das Geschehen nicht selten ironisch kommentiert oder in den letzten beiden Episoden die Fäden fast perfekt zusammenlaufen. Auch die Verknüpfung der einzelnen Handlungsstränge gelingt Covell und Christou. Ich würde mir an dieser Stelle wünschen die beiden stießen zum Writers’ Room von Die Ringe der Macht.
Zudem werden hier bekannte Mythen auf kreative Weise neu interpretiert. So entschließt sich Eurydice/Riddy kurz vor ihrem Tod, Ehemann Orpheus zu verlassen, weil sie ihn nicht mehr liebt. Das lässt die verzweifelte Mission des begnadeten Musikers umso tragischer aussehen. Auch andere Sagen erhalten hier einen modernen, teils feministischen Twist, z.B. die Geschichte vom Minotaurus. Auf Kreta, einer Art Präsidialdiktatur nach lateinamerikanischem Vorbild, wo sich ein Großteil der irdischen Handlung abspielt, leben die durch die Zerstörung ihrer Stadt heimatlosen Überlebenden Trojas als mehr oder minder geduldete Flüchtlinge. Das Verhältnis zwischen Göttern und Sterblichen lässt sich auch als Allegorie auf das Verhalten der superreichen (Tech-)Milliardäre in der realen Welt, die kaum oder keine Steuern zahlen, mit ihrer Verschwendungssucht das Klima unnötig belasten und die zahlreichen Mitarbeiter*innen mit Hungerlöhnen abspeisen, verstehen. Die von vielen Seiten kolportierte schwarze Komödie oder Satire sehe ich in der Miniserie allerdings nicht, wobei es durchaus witzige Szenen/Elemente gibt.
Mit Hollywoodstar Jeff Goldblum (Jurassic Park, Independence Day) als unberechenbar-egomanen Göttervater Zeus, welcher den ursprünglich vorgesehenen, terminlich aber verhinderten Hugh Grant ersetzt, konnten Covell und Co einen ziemlichen Besetzungscoup landen. Doch auch der restliche Cast kann sich sehen lassen, wie die hochgewachsene Janet McTeer (Albert Noobs, The Menu ) als majestätische Hera, Stephen Dillane (Game of Thrones) als listiger Prometheus, Nabhaan Rizwan (Station Eleven) als unsteter Dionysos, Leila Farzad (The Decameron) als vom Schicksal gebeutelte Ariadne/Ari, und David Thewlis (Harry Potter-Filmreihe, Landscapers) als Hades, der mehr wie ein unfreiwilliger Firmenchef oder unglücklicher Bürokrat wirkt. Das Casting erweist sich nicht nur ethnisch als divers, sondern bietet sowohl bei den Schicksalsgöttinnen als auch den Erinnyen/Furien androgyne/genderqueere Darsteller*innen auf.
Manche der bekannten Götter wie Apollo, Athene oder Aphrodite treten leider gar nicht auf. Und die musikalische Untermalung zahlreicher Szenen mit bekannten Hits übertreibt die Serie vielleicht ein wenig zu sehr. Dennoch schade, dass es nach diesen acht starken Episoden nicht weitergehen wird, zumal das Ende auch Raum für eine Fortführung lässt. Es wird jedenfalls spannend zu beobachten, was sich Charlie Covell als nächstes Projekt vornimmt.
Die achtteilige Miniserie KAOS ist seit dem 29. August 2024 Teil des Angebots von Netflix.
Fazit: Charlie Covell gelingt mit KAOS eine erfrischende und stark besetzte Neuinterpretation der klassischen griechischen Sagenwelt. 8 von 10 Punkten.
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Marius Joa, 30. Dezember 2024. Bilder: Netflix.
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