Drei Jahre nach Deutschland 83 erschien die Fortsetzung über den DDR-Agenten Martin Rauch und seine Abenteuer. Deutschland 86 behandelt aber auch eine ganze Reihe anderer Figuren und Handlungsstränge.
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Deutschland 86
Drama-Serie/Spionagethriller Deutschland 2018. FSK: Freigegeben ab 12 Jahren. 10 Folgen. Gesamtlänge: ca. 480 Minuten.
Mit: Jonas Nay, Maria Schrader, Sylvester Groth, Sonja Gerhardt, Florence Kasumba, Lavinia Wilson, Ludwig Trepte, Alexander Beyer, Fritzi Haberlandt, Uwe Preuss, Niels Bormann, Vladimir Burlakov, Carina Wiese, Anke Engelke, Chris Veres u.v.a. Idee: Anna Winger und Jörg Winger. Regie: Florian Cossen und Arne Feldhusen.
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Die Rückkehr von Kolibri
1983 wurde der ostdeutsche Grenzsoldat Martin Rauch (Jonas Nay) als Spion unter dem Codenamen Kolibbri in die Bundeswehr eingeschleust, um Informationen über ein geplantes Nato-Manöver und die Stellung der Pershing-II-Raketen an den Geheimdienst der DDR weiterzugeben. Um einen nuklearen Konflikt zu vermeiden enttarnte sich Martin schließlich. Drei Jahre später fristet Martin ein Dasein im als Deutschlehrer in einem Waisenhaus in Angola. Um den drohenden Bankrott der DDR zu verhindern arbeitet Lenora Rauch (Maria Schrader), Martins Tante, an einem Waffendeal zwischen der BRD und dem südafrikanischen Militär. Insgeheim unterstützen Lenora und ihre Freundin Rose Seithathi (Florence Kasumba) allerding den ANC, der für das Ende des Apartheid-Regimes in Südafrika kämpft. Um das Waffengeschäft über die Bühne zu bringen engagieren die Frauen den widerwilligen Martin. Als Lenora und ihr Neffe allerdings an den schmierigen Söldner Gary Banks (Jonathan Pienaar) geraten, wendet sich das Blatt ein ums andere Mal.
Annett Schneider (Sonja Gerhardt), die Ex-Verlobte Martins und Mutter des gemeinsamen Sohnes Max, ist unterdessen innerhalb der HVA aufgestiegen während Martins Vater, Walter Schweppenstette (Sylvester Groth), aufgrund der Ereignisse drei Jahre zuvor an Einfluss verloren hat. Unter Führung von Annetts und Walters Vorgesetztem, Generalmajor Marcus Fuchs (Uwe Preuss), hat Barbara Dietrich (Anke Engelke) von der Kommerziellen Koordinierung (KoKo) weitere Projekte zur Devisenbeschaffung in Auftrag gegeben. Die Ärztin Tina Fischer (Fritzi Haberlandt) führt im Krankenhaus eine Studie zu einem neuen Medikament gegen COPD durch und stößt dabei an ihre Grenzen. Tinas Bruder, Thomas Posimski (Vladimir Burlakov), lebt mittlerweile im Westen und hat seine frühere Beziehung mit Annett zu einem Bestseller-Roman verarbeitet. Gemeinsam mit Tobias Tischbier (Alexander Beyer), einem Abgeordneten der Alternativen Partei und heimlichen Stasi-Mitarbeiter, arbeitet Thomas als Aktivist. Alexander “Alex” Edel (Ludwig Trepte), Martins früherer “Kollege”, hat die Bundeswehr verlassen und engagiert sich in einem Berliner Hospiz für Aids-Kranke. Während Alex zu seiner Homosexualität steht hat sich sein Freund, der amerikanische GI Tim (Chris Veres), noch nicht geoutet. Eine entscheidende Rolle in den Geheimdienst-Machenschaften spielt auch die BND-Agentin Brigitte Winkelmann (Lavinia Wilson)…
Die von Ende November bis Mitte Dezember 2015 bei RTL ausgestrahlte Serie Deutschland 83, die bereits Monate vorher in den USA gesendet worden war und überwältigend gute Kritiken erhallten hatte, empfand ich zwar als gelungen, aber irgendwie wirkte die Ost-West-Spionage-Show vom amerikanisch-deutschen Ehepaar Anna Winger und Jörg Winger inhaltlich etwas zu überfrachtet und daher erzählerisch unrund, weil sich die Geschichte für acht Folgen dann doch zu umfangreich gestaltete. Die Fortsetzung Deutschland 86 erschien vor zwei Jahren, allerdings nicht mehr bei RTL, sondern bei Amazon Prime Video. Die durchwachsenen Quoten bei RTL hatten gezeigt, dass so ein Stoff fürs Privatfernsehen vielleicht doch nicht so geeignet war. Und so suchten das Ehepaar Winger für die “zweite Staffel” die Zusammenarbeit mit dem Online-Anbieter. Eine Entscheidung, die sich als richtig erwiesen hat. “86” hat zudem mit zehn Episoden mehr Zeit zur Verfügung und nutzt diese auch effektiv.
Ursprünglich hatte ich die zweite Runde schon nach der Veröffentlichung bei Amazon ab 19. Oktober 2018 gesehen, doch das zeitnahe Schreiben einer Rezension nicht geschafft. Aus Anlass der seit 25. September 2020 verfügbaren dritten und letzten Season namens Deutschland 89 habe ich “86” einer zweiten Sichtung unterzogen und komme zum gleichen Ergebnis. Obwohl Anna Winger, die auch als Autorin an der dieses Jahr auf Netflix veröffentlichten, von Maria Schrader inszenierten Miniserie Unorthodox arbeitete, und ihr Team hier noch mehr Themen und Figuren in den Topf werfen gestaltet sich der Zehnteiler inhaltlich sehr ausgewogen.
Zusätzlich zu den Erlebnissen des Spions und Protagonisten Martin Rauch sowie den Vorgängen in seiner Heimat befasst sich Deutschland 86 mit weiteren politischen und gesellschaftlichen Themen der damaligen Zeit. Um den drohenden Staatsbankrott zu verhindern und ausländische Devisen zu ergattern schreckte man auf Seiten der DDR vor wenig zurück, auch nicht vor kapitalistischen Methoden. Da wurden schmutzige Waffen-Deals ausgeführt, der Müll von West- nach Ostdeutschland transportiert, Bluttransfusionen verkauft usw. Hauptsache am Ende kam Geld dabei rum. Diesem konkreten Thema widmen sich Alexander Lahl und Max Mönch mit ihrem Dokumentarfilm Comrades & Cash – Geheime Geschäfte unter dem Eisernen Vorhang, welcher zeitgleich mit den zehn Episoden der 2. Staffel veröffentlicht wurde.
Ein Großteil der Hauptcharaktere und wichtigen Nebenfiguren aus “83” kehrt zurück und bleibt auch weiterhin im Mittelpunkt der sich über diverse Schauplätze in mehreren Ländern (Ost- und Westdeutschland, Südafrika, Angola, Frankreich) verteilten Handlung: Protagonist Martin, seine dysfunktionale Familie – Vater Walter, Mutter Ingrid (Carina Wiese) und deren Schwester Lenora – sowie Martins frühere Verlobte Annett, die als trotz ihrer Rolle als alleinerziehenter Mutter als eiskalte Stasi-Barbie (mit auffallendem Makeup) Karriere in der HVA gemacht hat. Während ihr HVA-Kollege Hartmann (Niels Bormann) innerhalb der Geheimdienstorganisation weiterhin als trotteliger Nerd belächelt wird komplettiert Anke Engelke als unnachgiebige Buchhaltern das neue Team im Innendienst. Und die aus meiner Sicht oft überschätzte Komikerin/Schauspielerin (Die Wochenshow, Der WiXXer) schafft es trotz monströser Dauerwelle und Kassenbrille ihre Figur nicht wie eine Karikatur aussehen zu lassen, was bei Engelkes bisherigen Performances nicht unbedingt zu erwarten war. Mit Florence Kasumba (Black Panther, seit 2019 auch Tatort-Kommissarin) als Rose Seithathi bekommt der Kampf der schwarzen Bevölkerung Südafrikas ein Gesicht. Nur schade, dass die Figur zwischenzeitlich ziemlich von der Bildfläche verschwindet.
Die von Florian Cossen (Das Lied in mir) und Arne Feldhusen (Stromberg, Der Tatortreiniger) inszenierte Staffel zeigt aber auch westliche Befindlichkeiten des Jahres 1986, etwa wenn die tödliche Gefahr durch Aids und die Stigmatisierung der Erkrankten sowie die Machenschaften eines Pharmakonzerns angerissen werden. In Person von Army-Soldat Tim Avery (Chris Veres), dem amerikanischen Botschaftsmitarbeiter Hector Valdez (Raul Casso) und dessen Vorgesetzten (Piet Starret) wird zeitweise auch die Perspektive der USA eingenommen. Mit Thomas Posimski, der mittlerweile im Westen lebt, und seiner Schwester, der von Fritzi Haberlandt (Babylon Berlin) gespielten Ärztin Tina, die vom Leben im sozialistischen Deutschland zunehmend desillusioniert scheint, erhält man als Zuschauer auch Einblicke wie die Mauer Familien voneinander trennte oder die schwierige Kommunikation ihrer Mitglieder auf beiden Seiten.
Hinsichtlich Kostüme und Szenenbild liefert die Serie einen gekonnten Kontrast zwischen dem miefig-grauen Osten und den weitgehend glamourösen Westen. In Afrika bilden Angola und die südafrikanische Metropole Kapstadt die entsprechenden Gegenpole. 1980er-Fetischisten, deren Vorlieben derzeit auch durch Produktionen wie Dark oder Stranger Things bedient werden, dürften an der detailtreuen Rekonstruierung ihres Lieblingsjahrzehnts sicherlich ihre Freude haben, wenngleich dieser Aspekt nur einen Teil des ganzen Deutschland 86-Erlebnisses ausmacht. Wie realitätsnah genau die hier gezeigten Spionage-Stories wirklich sind kann ich aufgrund mangelnder Kenntnisse der Materie nicht beurteilen, doch wirken diese ganzen Elemente streckenweise recht aberwitzig und gekonnt überzeichnet. Auf humorvolle, teils fast absurd-komische Szenen muss man ebenfalls nicht verzichten.
Eine Sache ist mir bei der Wiederholungssichtung noch aufgefallen. Während Martin Rauch rein oberflächlich eine Art ostdeutschen James Bond oder Jason Bourne darstellt so wird durch seine Beziehung zu einer westdeutschen Agentin quasi die Konstellation von Liebesgrüße aus Moskau (1963) umgedreht. Der Romeo wird von einer Julia verführt. Den ein oder anderen Handlungsstrang hätte man sicherlich noch ein wenig mehr ausarbeiten können, dennoch funktioniert bei Deutschland 86 die Kombination von begrenzter Spielzeit (acht Stunden) und beträchtlicher Themenvielfalt. Ich bin jedenfalls gespannt wie Deutschland 89 die Saga von Kolibri & Co zu Ende führen wird.
Deutschland 86 ist Teil des Angebots von Amazon Prime Video und außerdem auf DVD erhältlich, inklusive der 80minütigen Doku Comrades & Cash – Geheime Geschäfte unter dem Eisernen Vorhang.
Fazit: Erzählerisch ausgewogene Mischung aus fiktional aufgearbeiteter Zeitgeschichte und teils aberwitzigem Spionagethriller. 8 von 10 Punkten.
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Rose Seithathi
Thomas Posimski und seine Freundin
Die HVA ist erstaunt
Alex Edel kämpft gegen Aids
Ärztin Tina ist desillusioniert
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Marius Joa, 30. November 2020. Bilder: Amazon/UFA Fiction/Universum Film.
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