Ist es möglich und ratsam, die Figur des Meisterdetektivs Sherlock Holmes und seine Fälle in die heutige Zeit zu übertragen? Diesen Versuch unternahm die BBC mit der Krimireihe Sherlock, die genau ein Jahr nach der britischen Premiere nun auch im deutschen Fernsehen läuft und bald auf DVD erscheint.
Sherlock: Ein Fall in Pink (Sherlock: A Study In Pink)
TV-Krimi UK 2010. FSK: Freigegeben ab 12 Jahren. 88 Minuten (PAL-DVD). TV-Erstausstrahlung: 24. Juli 2011.
Mit: Benedict Cumberbatch, Martin Freeman, Rupert Graves, Una Stubbs, Vinette Robinson, Mark Gatiss, Phil Davis u.a. Regie: Paul McGuigan. Drehbuch: Steven Moffat. Nach dem Roman Eine Studie in Scharlachrot von Arthur Conan Doyle.
Genial konstruiert
Nach einer schweren Verletzung im Afghanistan-Einsatz ist Dr. John Watson (Martin Freeman) aus dem Militärdienst ausgeschieden. Seine Psychologin empfiehlt Watson, seine traumatischen Erlebnisse durch das Schreiben eines Blogs zu verarbeiten. Auf der Suche nach einer günstigeren Wohnung in London trifft Watson auf einen alten Schulfreund, der ihm rät, eine Wohngemeinschaft zur Aufteilung der hohen Miete einzugehen. Bei dieser Gelegenheit trifft Watson auf den höchst exzentrischen, aber genialen Sherlock Holmes (Benedict Cumberbatch), der sofort Watsons Lebensgeschichte treffend wiedergibt. Holmes ist ein brillanter Kopf, der mithilfe seines fotografischen Gedächtnisses und seiner Deduktion jeden noch so kniffligen Fall lösen kann und deshalb von der Polizei Londons immer wieder als „consultant detective“ zu Rate gezogen wird. Bei der Aufklärug einer Serie von Selbstmorden mit Tabletten ist Detective Inspector Lestrade (Rupert Graves) ebenfalls auf Holmes’ Hilfe angewiesen. Der „Meisterdetektiv“ ist über den neuen Fall hocherfreut, lebt er doch für diese geistigen Herausforderungen. Kaum sind Holmes und Watson im Haus der Vermieterin Mrs. Hudson (Una Stubbs) eingezogen, sieht sich der Arzt mehr oder minder unfreiwillig zum Assistent des großen Ermittlers ernannt. Da bietet ein mysteriöser Mann (Mark Gatiss) Watson Geld dafür, dass er Holmes ausspioniert…
Sherlock Holmes und Dr. John Watson
Eine bekannte literarische Figur aus einer „anderen Zeit“ in die heutige zu übertragen, kann das gut gehen? Eher nicht, wenn man sich die öde und einfallslose TV-Adaption des Agatha-Christie-Klassikers Mord im Orientexpress von 2001 ansieht, indem der sonst so geniale Meisterdetektiv Hercule Poirot im Internet recherchiert. Doch das Gegenteil beweist Ein Fall in Pink, der erste Teil der neuen Krimireihe Sherlock, in welcher das von Arthur Conan Doyle erfundene Ermittlungsgenie Sherlock Holmes im London des 21. Jahrhunderts ermittelt. Die Macher der neuen Serie sind mit Steven Moffat und Mark Gatiss keine Unbekannten im britischen Fernsehen. Moffat erfand die genial-komische Sitcom Coupling und schrieb die Drehbücher zu allen 28 Folgen. Außerdem ist er mittlerweile Showrunner der Neuauflage des TV-Klassikers Doctor Who, für welchen auch Gatiss Drehbücher und Romane schrieb. Außerdem ist Gatiss Schauspieler und Mitglied der Komikertruppe „The League Of Gentlemen“. In der ersten Staffel von Sherlock ist er ebenfalls mit dabei. Produzenten der Serie sind außerdem Moffats Ehefrau Sue Vertue und Schwiegermutter Beryl Vertue.
Auch wenn es zu Beginn etwas komisch wirkt, aber Sherlock Holmes ist hier ein Kind seiner Zeit. Er lehnt Festnetztelefone ab und kommuniziert am liebsten über SMS, auch wenn er der Polizei und den Journalisten gleichzeitig mitteilt, dass sie auf der völlig falschen Fährte sind. Damit der Zuschauer den Inhalt mitbekommt, sieht man die Textnachrichten auch immer in den Filmszenen. Holmes nutzt sein Smartphone der Marke „mephone“ (eine mehr als deutliche Anspielung auf das iPhone von Apple) auch, um gleich am Tatort in Windeseile zu recherchieren. Außerdem hat er das gesamte Straßennetz der britischen Hauptstadt im Kopf. Natürlich wirkt Holmes’ Intellekt und seine explosiven Geistesblitze oft konstruiert, aber die hervorragend ausgearbeitete und von Benedict Cumberbatch (Abbitte, Die Schwester der Königin) glänzend gespielte Figur ist einfach köstlich und liefert im Zusammenspiel mit Watson und anderen humorvolle, pointierte Dialoge. Der Sherlock Holmes des 21. Jahrhunderts trägt auch keinen Jägerhut und raucht nicht Pfeife, sondern versucht sich den blauen Dunst mit Nikotinpflastern abzugewöhnen. Trotz der Adaption ist also noch überraschend viel von der ursprünglichen Figur übrig geblieben. Auch der Charakter des Dr. Watson, ein eher zurückhaltender Zeitgenosse, ist mit einer authentischen Hintergrundgeschichte versehen worden. Im Roman Veteran des englisch-afghanischen Krieges, so ist der Militärarzt hier ebenfalls nach einer Verletzung aus Afghanistan zurück und hat Schwierigkeiten, im „normalen“ Leben Fuß zu fassen. Da kommt die aufregende Ermittlungsarbeit mit dem Meisterdetektiv gerade recht.
Doch Ein Fall in Pink ist mehr als nur ein solider Fernsehkrimi. Die in düsteren Farben gehaltenen Bilder sind absolut kinotauglich. London wirkt wie eine kalte Metropole, eine Stadt der Depression und der sterilen Hochhäuser. Die Szenenübergänge erfolgen teilweise mit einer Art Splitscreen, was den Bildern einen leicht surrealen Touch gibt. Bei der Musik ließ man sich verblüffenderweise von Guy Ritchies flachem aber unterhaltsamen Sherlock Holmes-Kinofilm von 2009 inspirieren, die Mischung aus Zymbal und „schrägen“ Streichern überzeugt.
Mit Sherlock haben Moffat, Gatiss & Co bewiesen, dass man klassische Detektivgeschichten auch neuartig erzählen kann und dabei gleichzeitig die Quintessenz der Originale beibehalten. Daher wurde die erste Staffel bei den BAFTA Awards – dem wichtigsten britischen Film- und Fernsehpreis – mit drei Preisen belohnt (als beste Dramaserie, für den besten Schnitt und für Darsteller Martin Freeman).
Am 24. Juli lief der erste Sherlock-Fall im Ersten, fast zur besten Sendezeit, am Sonntag um 21:45 Uhr, also direkt nach dem Tatort, was gute Zuschauerzahlen in Höhe von über 4 Millionen bedeutete. Die Fälle zwei und drei laufen an den folgenden Sonntagen. Wer die erste Staffel verpasst, keine Sorge: ab 8. August 2011 gibt es sie auf DVD und BluRay. Und für Herbst sind im Vereinigten Königreich drei neue Folgen von Sherlock geplant.
Fazit: Genial konstruierte und inszenierte Neuadaption. 9 von 10 Punkten.
Inspector Lestrade
TV-Tipp
Sherlock: Der blinde Banker – Sonntag, 31. Juli 2011, 21:45 ARD
Sherlock: Das große Spiel – Sonntag, 7. August 2011, 21:45 ARD
Marius Joa, 30. Juli 2011. Bilder: BBC/Polyband.
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