Ein merkwürdiger Himmelskörper verwandelt im viktorianischen London einige Menschen und gibt ihnen besondere Fähigkeiten. Doch in der Gesellschaft werden diese “Berührten” ausgegrenzt und gejagt, in The Nevers, der neuen Serie von Kult-Fernsehautor Joss Whedon (Firefly, The Avengers).
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The Nevers: Staffel 1, Teil 1 (The Nevers: Season 1, Part 1)
Science-Fiction-Serie USA 2021. FSK: Freigegeben ab 16 Jahren. 6 Folgen.
Gesamtlänge: ca. 360 Minuten.
Mit: Laura Donnelly, Ann Skelly, Olivia Williams, Tom Riley, James Norton, Pip Torrens, Denis O’Hare, Rochelle Neil, Amy Manson, Zackary Momoh, Nick Frost, Elizabeth Berrington, Viola Prettejohn, Anna Devlin, Kiran Sonia Sawar, Ben Chaplin, Ella Smith u.v.a. Idee: Joss Whedon. Regie: Joss Whedon, David Semel, Zetna Fuentes.
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Vom Himmel noch…
London, August 1896. Ein unbekannter Himmelskörper taucht plötzlich über der Hauptstadt des britischen Empires auf und lässt merkwürdige Funken niederregnen. Manche Menschen, welche von den Funken berührt wurden, entwickeln in der Folge eine oder mehrere besondere Fähigkeiten. Der Großteil dieser “Berührten” sind Frauen. Wegen ihrer teilweise gefährlichen Besonderheiten werden die Berührten ausgegrenzt und verfolgt. Mit Unterstützung der wohlhabenden, an einen Rollstuhl gefesselten Lavinia Bidlow (Olivia Williams), hat die verwitwete Amalia True (Laura Donnelly) eine sogenanntes Waisenhaus für alle Berührten eröffnet. Amalia kann für kurze Momente in die Zukunft sehen. Gemeinsam mit der hochbegabten Erfinderin Penance Adair (Ann Skelly) beherbergt sie Menschen mit unterschiedlichsten Fähigkeiten. Doch nicht alle Berührten haben ihre Gabe gut verarbeitet. Die psychisch labile Sarah (Amy Manson) wurde völlig wahnsinnig und begann unter ihrem neuen Namen Maladie eine Mordserie, welche ihr einen Ruf als legitimer Nachfolger des Rippers einbrachte. Der sadistische amerikanische Arzt Dr. Hague (Denis O’Hare) experimentiert unterdessen ohne Skrupel an einigen Berührten, um die genauen Hintergründe der Fähigkeiten herauszufinden. Kriegsveteran Lord Gilbert Massen (Pip Torrens) hat einen Rat wichtiger Männer des Empire einberufen, um der Bedrohung der natürlichen Ordnung durch due Berührten zu begegnen. Hugo Swann (James Norton), einflussreicher Lebemann, macht sich die besonderen Menschen für seinen exklusiven Privatclub zunutze. Polizist Frank Mundi (Ben Chaplin) führt die Ermittlungen im Fall Maladie…
Amalia True
Joss Whedon (geboren 1964) gehört für meine Generation zu den absoluten Kultfiguren unter den Fernseh- und Filmemachern. Nach Anfängen als Autor bei der Comedyserie Roseanne Ende der 1980er Jahre konnte der US-Amerikaner mit seinem Skript zur Horrorkomödie Buffy, der Vampirkiller (1992) und als Co-Autor des Drehbuchs von Toy Story (1995) erste Erfolge feiern. Die Vampirjägerin Buffy brachte Whedon in ihrer eigenen Serie Buffy – Im Bann der Dämonen (Buffy the Vampire Slayer; 1997-2003) mit Sarah Michelle Gellar als Titelheldin auf die Fernsehbildschirme. Von 1999 bis 2004 lief außerdem die Spinoff-Show Angel, über den von David Boreanaz verkörperten Vampir. Ich persönlich schätze Whedon allerdings weder wegen Buffy, Angel noch der gelungenen Marvel-Superheldenzusammenkunft The Avengers (2012) (und schon gar nicht für die seelenlos-plumpe Fortsetzung Avengers: Age of Ultron), sondern für seine eigenwillige Scifi-Westernserie Firefly (2002/03) und den dazugehörigen Kinofilm Serenity (2005).
Nachdem Regisseur Zack Snyder wegen des tragischen Todes seiner Tochter die Dreharbeiten des DC-Comic-Blockbusters Justice League (2017) nicht beenden konnte sprang Whedon ein. Seine Version konnte aber weder Kritiker noch Fans überzeugen und auch kein zufriedenstellendes Einspielergebnis erzielen. 2021 durfte Snyder dann seine eigene, vierstündige (!) Fassung veröffentlichen. Whedon wandte sich einem neuen Serienprojekt bei HBO zu. The Nevers vereint das Setting der viktorianischen Phantastik mit bekannten Elementen aus Superhelden-Comics wie X-Men (für die Whedon als Comicautor tätig war) und einer sozialen Komponente.
Ursprünglich hatte HBO eine Staffel mit zehn Folgen bestellt. Nachdem die Dreharbeiten im Juli 2019 begonnen hatten, konnten bis zum Lockdown in der Covid19-Pandemie 2020 die Hälfte der Episoden abgedreht werden. Im September und Oktober 2020 konnte die Produktion wieder aufgenommen werden und an deren Ende standen sechs Folgen, die ab April 2021 als erster Teil von Season 1 veröffentlicht wurden. Im Juni 2021 begannen die Dreharbeiten zu den Folgen 7 bis 12. Joss Whedon verließ die Serie allerdings Ende 2020. Als Grund gab er Erschöpfung wegen der Corona-Pandemie an. Doch sehr wahrscheinlich ist sein Ausscheiden auf die vielfach gegen ihn vorgetragenen Vorwürfe über herablassendes und inakzeptables Benehmen zurückzuführen. Die britische Drehbuchautorin Philippa Goslett (Maria Magdalena) übernahm die vakante Rolle des Showrunners. Es mag teils an der problematischen Personalie Whedon liegen, aber irgendwie erhielt The Nevers nicht die gebührende Aufmerksamkeit, welcher man einer hochwertigen Produktion des Pay-TV-Anbieters HBO, der mit HBO Max mittlerweile in den USA auch seinen eigenen Streamingdienst hat, ansonsten gewährt. Besonders schade, weil The Nevers unterschiedliche Elemente auf spannende Weise neu zusammenfügt.
Lord Massen
Leider bleibt der Anfang nicht ohne Probleme. Whedon und seine Co-Autoren, darunter die langjährige Weggefährtin Jane Espenson, packen sehr viel Handlung in die ersten sechs Folgen. Das macht den Serienauftakt zwar abwechlungsreich und spannend, die Handlung wirkt dadurch aber auch bisweilen gehetzt. An die 20 Personen zählen zu den Hauptfiguren, von denen manche lediglich in Stellung gebracht werden und kaum entwickelt werden können. Diese Schwächen können sich in den noch kommenden Episoden allerdings relativ einfach in Wohlgefallen auflösen.
Überwiegend erweist sich The Nevers auch schon in der ersten Halbstaffel als intelligente TV-Produktion an der Schnittstelle von Genre-Thematiken und sozialen Fragen. Als besonderen Turn wurden überwiegend Frauen mit Fähigkeiten bedacht, was in einer völlig patriarchalischen Welt wie London am Ende des 19. Jahrhunderts natürlich für eine weitere Ausgrenzung des “schwachen” Geschlechts sorgt. Das Szenario verwendet bekannte Thematiken und Motive aus dem Superhelden- und Mystery-Genre, um diese dann einerseits mit viktorianischer Phantastik und Steampunk sowie andererseits mit Transgressive Fiction zu vermengen. Als ob sich so etwas wie 4400 – Die Rückkehrer etwa 100 Jahre früher abgespielt hätte.
Angeführt von Laura Donnelly (The Fall – Tod in Belfast, Outlander) in der zentralen Rolle der Amalia True offenbart The Nevers ein illustres und teilweise sehr namhaftes Ensemble hochkarätiger Darsteller und Charaktere, darunter Ann Skelly als gleichzeitig gläubige und progressive Erfinderin Penance Adair, Olivia Williams (The Sixth Sense, An Education) als Lavinia Bidlow, der gewohnt stoische Pip Torrens (The Crown) als Lord Massen, Amy Manson (Being Human) als Serienmörderin Maladie, Nick Frost (Three Flavours Cornetto-Trilogie, Into the Badlands) als schmieriger Unterweltkönig sowie der kaum wiedererkennbare Ben Chaplin (Birthday Girl, Die Tore der Welt) als Inspektor Mundi. In der letzten Folge wird die ganze bisherige Handlung quasi auf den Kopf gestellt. Das macht in jedem Fall Lust auf die zweite Hälfte der ersten Staffel. Denn die Serie hält noch so Einiges an Potenzial bereit.
Die erste Hälfte von Staffel 1 (6 Folgen) erscheint am 27. Januar 2022 auf DVD und ist außerdem als kostenpflichtiger Stream bei Amazon, Apple TV, Google Play, Maxdome, Sky und Magenta TV verfügbar.
Fazit: Joss Whedons The Nevers steht in der Tradition viktorianischer Phantastik und präsentiert das gängige Motiv der Menschen mit besonderen Fähigkeiten in einem durchaus neuartigen Gewand. 8 von 10 Punkten.
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Penance Adair tüftelt
Lavinia Bidlow
Primrose überragt alle
Maladie sorgt für Angst und Schrecken
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Marius Joa, 9. Januar 2022. Bilder: HBO/Sky.
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